An diesem Sonntagabend erlebte die sogenannte Qualitätsdebatte im deutschen Fernsehen eine überraschende Wendung – und das ausgerechnet durch eines der verstaubtesten Formate, das die ARD zu bieten hat. An diesem Sonntagabend nämlich wurde der „Tatort“ neu erfunden. Vielleicht wird er durch den ersten Auftritt von Ermittler Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) aber auch in seiner jetzigen Form abgeschafft. Zu erleben ist jedenfalls ein Frontalangriff auf unseren eingeschliffenen Sehgewohnheiten: Der „Tatort“ ging bisher fast immer so: Ein Mord passiert. Zwei Kommissare, die sich hassen, respektieren, mögen oder lieben, kommen zum Tatort, befragen die Spurensicherung, dann den Pathologen, die Assistentin durchkämmt die Verbrecherkartei, der Staatsanwalt schnauzt rum, die Kommissare knallen mit den Türen, der Geliebte oder die Entliebte werden zum Thema, mindestens einmal wird der pädagogische Zeigefinger zum richtigen Umgang mit sozialen Randgruppen gehoben, es kommt zum Showdown – und dann essen die Kommissare irgendwo Currywurst.
Diesmal darf der Türke Ermittler sein
Das war der „Tatort“ der Vergangenheit. Mit all dem ist jetzt Schluss – zumindestens in Hamburg. Cenk Batu heißt der neue Kommissar des NDR. Nie sieht man ihn ein Präsidium betreten, nie im Keller des Pathologen, und niemals geht er mit dem Kollegen in der Öffentlichkeit vertraut um. Ein Privatleben hat der Kommissar nicht, sein ganzes Leben ist eine Rolle, die ihm – wenn er sie nicht richtig spielt – den Tod bringen kann: Cenk Batu ist verdeckter Ermittler.
Als sei das nicht genug der Herausforderung, haben die NDR-Redakteure Doris J. Heinze und Eric Friedler ihren Kommissar mit einer weiteren Besonderheit ausgestattet: Cenk Batu ist türkischstämmig – einen solchen Kommissar gab es in der Geschichte der Krimireihe noch nicht. Im „Tatort“ hatten Türken immer Frauenunterdrücker, Opfer oder Gemüsehändler zu sein.
Gleich in seinem ersten Fall, „Auf der Sonnenseite“ (Drehbuch: Thorsten Wettcke und Christoph Silber), zeigt Batu, wie wandelbar er ist. Als Geschäftsmann „Thierry“ hat der verdeckte Ermittler monatelang den Unternehmer Petermann ausspioniert. Der wird verdächtigt, an der Spitze eines Geldwäscherrings zu stehen. Als Batu endlich in den engeren Zirkel vorzudringen glaubt, scheitert er an einer brutalen Feuerprobe, mit der Petermann seine Loyalität testen will. Batu wird abgezogen, gegen seinen Willen.
Frustriert macht er sich an den nächsten Fall: Über den jungen Türken Deniz (Burak Yigit), der nach einer Messerstecherei im Krankenhaus liegt, soll Batu den Kontakt zu dessen Onkel Tuncay Nezrem (Aykut Kayacik) herstellen. Der Clan-Fürst importiert offenbar nicht nur Gemüse aus der Türkei. Batu schlüpft in die Rolle eines vorbestraften Schlägers, gewinnt Deniz‘ Vertrauen, gibt Tuncay das Gefühl, ein ebensolcher Schurke wie er zu sein, und avanciert zu dessen Fahrer. Als plötzlich Petermann auftaucht, um mit Tuncay Nezrem Geschäfte zu machen, droht Batus Tarnung aufzufliegen.
Mit Aufträgen in der rechtlichen Grauzone muss sich Batu im Milieu bewegen, darf sich aber nicht strafbar machen.
Man hätte diesen Kommissar Cenk Batu zum Vorzeigetürken machen können. Zum Musterbeispiel gelungener Integration. Zu einer Art Streetworker, der tagsüber in Hinterhofmoscheen und nachts auf der Reeperbahn unterwegs ist und verirrten Landsleuten den Weg zurück ins deutsche Leben weist. Oder zu einem, der wegen seiner Herkuft angefeindet wird und damit zu einem Vehikel, um Ausländerfeindlichkeit zu thematisieren. Es ist der Redaktion des NDR hoch anzurechnen, dass sie uns diese Form der gesinnungsethischen Folter erspart. Cenk Batu wird nicht primär durch seine türkische Herkunft definiert. Sie erscheint im Film eher als Randaspekt und spiegelt nicht nur Batus eigenen Umgang damit wider, sondern auch ein Stück Realität, wie sie viele türkischstämmige Menschen in Deutschland erleben.
Denn es sind eher die anderen, die auf den türkischen Namen des Kommissars und sein südländisches Aussehen reagieren – mit Erwartungen, denen er oft nicht gerecht werden kann: Sein Türkisch ist miserabel, zu Hause wartet keine Großfamilie auf ihn, und als Tuncay Nezrem ihm einen Job in einer türkischen Imbissbude verschafft, stellt er sich reichlich ungeschickt bei der Dönerzubereitung an.
Auch das türkische Milieu, in das Batu bei seinen Ermittlungen eintaucht, widerspricht den Klischees, die man ansonsten aus deutschen Fernsehfilmen kennt: Die Türken halten nicht zusammen, auf Begriffe wie Ehre, Familie und Moral wird gepfiffen, der Mammon regiert die Welt. Und am Ende ist es kein Türke, sondern ein Deutscher, der seine Tochter zu einem Leben zwingen will, das sie gar nicht möchte.
Anders als man es sonst vom „Tatort“ kennt, lässt sich Regisseur Richard Huber Zeit bis zur ersten Leiche. Der Spannung tut das keinen Abbruch – der Tatort ist ohnehin überall dort, wo Batu gerade ist. Nie wissen wir mehr als er; das Dickicht des Verbrechens durchdringen wir mit seinen Augen, und das ist das Großartige an dem Film.
Geradezu voyeuristisch heftet sich die Kamera an seine Fersen, folgt ihm durch ein Hamburg, das Markus Langer als eine Stadt der klaren Linien und klaren Farben fotografiert. Die Welten der Bösen und der Guten vermischen sich, im Schönen lauert das Verderben. Natürlich dient diese Dramaturgie auch dazu, uns den neuen Ermittler vorzustellen.
Der Schauspieler Mehmet Kurtulus verkörpert ihn als zurückhaltenden Einzelgänger mit einem Hang zur Melancholie. Die Menschen, die er bei seinen Ermittlungen trifft, sind für ihn nicht bloß Statisten in einem Kriminalfall, sondern Persönlichkeiten, deren Schicksale ihm bisweilen den Schlaf rauben. Einen vertrauten Menschen, mit dem er das Erlebte teilen könnte, hat er nicht. Aber einen Vater, „Baba“, der den Sohn mit seinen Anrufen daran zu erinnern scheint, dass es noch ein Leben jenseits des verdeckten gibt.
Uwe Kohnau (Peter Jordan), Batus Verbindungsmann bei der Polizei, ist dagegen ein Ehrgeizling, den einzig der korrekte Abschluss eines Falls interessiert. Kohnau jongliert mit Batus Fähigkeiten, muss dann aber doch immer wieder rennen, weil die Bälle auf einmal höher schnellen, als es seine Paragraphen-Welt erlaubt: Batu soll sich im Milieu bewegen, darf dabei aber – zumindestens offiziell – nicht den kleinsten kriminellen Fehltritt begehen.
Batus einziger Rückzugsraum ist seine Wohnung, in der er sich zwischen den Einsätzen verkriecht wie ein müder Wolf in seine Höhle. Sie liegt weit oben in einem Hochhaus, aus dessen Fenstern Batu auf das Leben in der Stadt blicken kann, ohne ihm nahe sein zu müssen. Die Wohnung ist die Hülle für seine Einsamkeit: Der Anrufbeantworter schweigt, nur wenig Post hat sich in Batus Abwesenheit angesammelt, das einzig Lebendige sind die Fische im Aquarium. Batu spielt Schach – gegen sich selbst. Wie das Spiel besteht auch Batus Leben nur aus Strategie.
Dass sich versteckt in seinem Inneren dennoch ein feiner Riss, ein Hauch von Zweifel an seine Identität als verdeckter Ermittler zieht, erfahren wir in einem winzigen, flüchtigen Moment: Wir sehen Batu mit der Nachbarin Anja (Patrycia Ziolkowska) im Waschkeller stehen, die beiden wechseln ein paar wenige, belanglos scheinende Worte. Und dennoch schwingt beim kurzen Begegnen Verheißung ebenso mit wie Versagung: Batus unnahbare Schale, glaubt man, müsste im nächsten Augenblick bersten.
Das Konzept des neuen „Tatorts“ sei innerhalb der Reihe ein ganz neuer Ansatz, betont NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze. Der Hauptdarsteller selbst, der für die Rolle ein einwöchiges Polizeiprogramm absolviert hatte, fasste den Ansatz kürzer zusammen: „Seien wir mal ehrlich: Da steht ‚Tatort‘ drauf, ist aber kein ‚Tatort‘ drin.“ Der dramaturgische Unterschied zu herkömmlichen Drehbüchern sei leicht zu beschreiben: „Wir sind immer am Tatort und fahren nicht erst hin“, so Kurtulus. Man habe die einmalige Chance bekommen, sich zwischen den Eckpfeilern der Marke frei zu bewegen. Das Team durfte „mit dem alten Dampfer ‚Tatort‘ um-gehen, als sei es ein Motorboot“, sagt Kurtulus, der in dieser Rolle künftig jährlichzwei Mal zu sehen sein wird.
Mit den großen Schlagzeilen zu seiner Premiere hatte der Schauspieler nicht gerechnet. „Mir war nicht bewusst, was ich mir da angetan habe“. Doch im Laufe der Zeit habe er mitbekommen, was „für eine Kraft der ‚Tatort‘ hat.“ tno