Individuell und kosmopolitisch – Ulrich Becks soziologischer Blick auf die Religionen
Die Chefdenker der «zweiten, reflexiven Moderne» haben die Religion entdeckt. Im Verlag der Weltreligionen, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts die hundert Jahre zuvor vom Lebensreformer Eugen Diederichs erfolgreich auf den Buchmarkt gebrachten Visionen einer Glaubensbibliothek der gesamten Menschheit fortschreiben will, legt Ulrich Beck nun sein individuelles Credo zu einer kosmopolitischen Religiosität der toleranten Friedensfähigkeit ab.

Zwar habe er als Soziologe «im Glauben an die Erlösungskraft der soziologischen Aufklärung das Säkularismus-Idiom im Blut». Aber Beck kennt auch die Schwächen des «methodologischen Säkularismus» einer Zunft, in der selbst grosse Geister öffentlich bekennen, «religiös unmusikalisch» zu sein. Darf man ernsthaft Stolz bekunden, eine elementare Symbolsprache der Menschheit nicht mehr zu verstehen?

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Überwindung des Nationalismus

Ratzinger wäscht Fuß

Ratzinger wäscht Fuß

Gegen einen trivialen Funktionalismus, der Regentänze von Indianern ebenso wie die Fusswaschungen des Papstes als Beitrag zur «Integration» von Gruppen deutet, betont Beck die relative Autonomie religiösen Bewusstseins. Für die Frommen bedeutet ihr Glaube nun einmal sehr viel mehr und anderes als das, was Soziologen in ihren Aussenperspektiven wahrzunehmen vermögen. Beck weiss um die Grenzen seines Vorhabens und spricht von «eklatanten Wissensmängeln», speziell mit Blick auf die vielen Melange-Religionen Asiens. Er will den überkommenen «methodologischen Nationalismus» durch einen «kosmopolitischen Blickwechsel» überwinden, gesteht sich und seinen Lesern in sympathischer Offenheit aber eine «präreflexive» Bindung an europäisch-christliche Sichtweisen ein. Hier wird ein Grundproblem des «methodologischen Kosmopolitismus» sichtbar: Bei aller Entnationalisierung des Denkens und Sehens kann ja niemand seine immer schon durch Sprache und Kultur geprägte individuelle Perspektive überwinden.

Die Erkenntnisgrenzen konventioneller Soziologie markiert Beck mit einer entschieden «unsoziologischen Einleitung». Dicht beschreibt er das von März 1941 bis Oktober 1943 entstandene Tagebuch der jüdischen Holländerin Etty Hillesum, die auf die Bedrohung ihres Lebens mit einem inneren Selbstgespräch reagiert, in dem «Selbsterfindung und Gotterfindung wie selbstverständlich zusammenfallen». Hillesums eigener Gott kennt keine Dogmen, Theologien, Kirchen und wohnt allein im Inneren der Frommen als Garant ihrer transzendenten Würde und Freiheit.

Für die suggestive Formel vom «eigenen Gott» reklamiert Beck Autorschaft, obgleich die Individualisierung religiösen Glaubens schon seit Schleiermachers 1799 erschienenen «Reden über die Religion» bestens bekannt ist. Und mit Klassikern soziologischer Religionstheorie verortet er den Ursprung moderner Individualisierung im Christentum. Gern zitiert Beck den Galaterbrief, wonach jeder im Glauben an Christus Sohn Gottes ist und nicht mehr Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier und auch nicht Mann und Weib, sondern eben alle eins in Christus sind. Allerdings vermag Glaube zugleich neue Trennlinien zu markieren, etwa zwischen Frommen und Gottesleugnern oder den Anhängern konkurrierender Religionen. Angesichts globaler Risiken wie der Klimakatastrophe und der Konflikte zwischen einem politisierten Islam und «dem Westen» sucht Beck deshalb nach religiösen Kräften, die die grossen Glaubensakteure zivilisieren.

Im zweiten Kapitel wird das «Säkularisierungsparadox» entfaltet, wonach moderne Wissenschaft und weltlicher Staat als Gewinn für den Glauben gelten können: Indem Religion durch Wissenschaft vom Aberglauben befreit und durch Verweltlichung politischer Institutionen von der Bürde der Herrschaftslegitimation entlastet wird, kann sie nun reine Religion sein. Beck skizziert die globale Durchdringung einst ferner Religionskulturen und die Umformung von Religion in Religiosität und in Spiritualität, deren einzige Autorität im mündigen Subjekt selbst liegt. Im multireligiösen Europa seien auch die diversen neuen muslimischen Religionskulturen zunehmend durch Individualisierung geprägt. Massenmedialisierung fördere die Erfahrung der Grenzenlosigkeit einer universellen Nachbarschaft. Diese «kosmopolitische Konstellation» erzeuge «neue Bilder religiös bestimmter Weltgesellschaftlichkeit», aber auch dramatische Konfliktpotenziale. In diesen «Weltreligionskonflikten» setzt Beck auf eine «Selbst-Zivilisierung der sich widersprechenden religiösen Gewissheiten», teils «durch die List der Nebenfolge der Individualisierung der Religionen», teils «durch einen Typus der Toleranz, dessen Ziel nicht Wahrheit, aber Frieden ist».

Im dritten Kapitel werden die zwei so unterschiedlichen «Gesichter der Religionen» porträtiert: Toleranz und Gewalt. Beck hofft auf «das humane Prinzip eines subjektiven Polytheismus», der die Andersheit der anderen zu achten vermag. Diese «Kosmopolitisierung» der Religionen, die Auflösung klarer Grenzen, entfaltet er weithin in appellativer Sprache. Gewiss, eine «Basiskultur gegenseitiger Anerkennung der Religionen» wäre friedensdienlich. Aber Beck vermag nicht zu sagen, wie sich unter den Bedingungen intensivierter globaler Glaubenskommunikation neue Polarisierung mit harter wechselseitiger Abgrenzung verhindern lässt.
Allversöhnung

In der Religion des modernen «Menschenrechtsindividualismus» wurde das autonome Ich als Träger von Würde par excellence sakralisiert. Der glaubende Mensch ist hier zugleich sein eigener Gott, der freilich andere Individualgötter neben sich dulden muss. Beck beschreibt dies durch gelungene historische Beispiele, tut sich in der emphatisch beschworenen «Vision einer kosmopolitischen Religiosität» aber schwer damit, den Siegeszügen harten, fundamentalistischen Glaubens gerecht zu werden. Keines der von ihm skizzierten «fünf Modelle der Zivilisierung weltreligiöser Konflikte» hat den Dauerstreit frommer Absolutismen beenden können. Jürgen Habermas wirft er vor, die «Schlüsselfrage» nicht zu stellen, «wie sich die exklusive und eifernde Form des Monotheismus in der konfliktvollen Begegnung mit einer Fremdreligion in eine Duldsamkeit und Friedfertigkeit ermöglichende, innere, standfeste Religionstoleranz verwandeln könnte». Beck stellt zu Recht die Frage, hat aber seinerseits keine überzeugende Antwort – abgesehen davon, dass die Assoziation von Eingottglaube und Gewalt angesichts der Gewalt in polytheistischen Religionskulturen empirisch wenig plausibel ist.

Ulrich Beck hat ein Buch mit vielen klugen Beobachtungen zum konfliktreichen Religionswandel in der Gegenwartsmoderne vorgelegt, das freilich religiöse Inhalte und theologische Ideen kaum in den Blick nimmt. Gelebte Religion kommt nur am Rande vor. Die Dynamik höchst antagonistischer Religionskulturen mit ihren je eigenen Erlösungsvisionen wird in der «kosmopolitischen Perspektive» unterschätzt – mit der fatalen Folge, dass Beck seine fromme Allversöhnungsprosa für bare diagnostische Münze nimmt. Manch ein «eigener» Gott fordert derzeit wieder Devotion durch Gewalt. Angesichts dessen sollten kritische Intellektuelle ihren privaten Gegengott in strengster analytischer Redlichkeit verehren, im demütigen Wissen, dass die Binnenperspektiven fremden Glaubens trotz allen hehren Postulaten einer Anerkennung des anderen oft unverständlich bleiben. Die kosmopolitische Vogelschau tendiert zum abstrakt Allgemeinen. So nimmt der Autor der «Risikogesellschaft» die vielen Religionsrisiken unserer Zeit nicht ernst genug. got

Ulrich Beck: Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotenzial der Religionen. Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main 2008. 275 S., € 34.30

Okt. 2008 | Allgemein, Feuilleton, Kirche & Bodenpersonal | Kommentieren