Der späte Martin Walser  – siehe oben –  ist eigentlich nur noch als komisches Phänomen gerechtfertigt & erträglich – um den von ihm so verehrten Nietzsche zu paraphrasieren.Einerseits treibt der alte Herr mit dem fiktionalen Faible für junges weibliches Frischfleisch eine literarische „Angstblüte“ nach der anderen hervor, um die von ihm bevorzugten „Feuchtgebiete“ zwischen trockene Tücher zu bekommen, die ihm der Rowohlt-Verlag bereithält.

Andererseits meldet er sich als Festredner und Interviewter immer mal wieder zu Wort, um mit dem Hämmerchen eines Westentaschen-Nietzsche wider die „deutsche Moral“ des „Rechthabenmüssens“ öffentlich zu philosophieren. Seit er dagegen, als „Trotzreaktion“, seine Formel „Nichts ist ohne seine Gegenteil wahr“ gefunden hat, hausiert das weißhäuptige Trotzköpfchen mit dieser rhetorischen Allzweckwaffe, wo immer er „den Deutschen“ seine Meinung sagt.

So jetzt kürzlich wieder, als er zum 60jährigen Bestehen der Bayrischen Akademie der Schönen Künste deren Präsidenten, nämlich seinem Freund Dieter Borchmeyer, eine Rede widmete, in der er „Erfahrungen mit dem Zeitgeist“ zum Besten gab. Es war ein Defilee bekannter Walserscher Anekdoten, deren Sammlung zum Klagenden Lied in München er zutreffend ein „Potpourri“ nannte, in dem er in seiner Lieblingsrolle – der lebenslang verfolgten Unschuld – nun zum wiederholten Male auftrat.

Dabei stellte er sich, nachdem er gerade erst in seinem jüngsten Roman sich mit dem alten Goethe identifiziert hatte, nun an die Seite des von Alfred Kerr „verfolgten“ Thomas Mann. Allerdings ließ er es nicht dabei bewenden, zwischen diesem Quälgeist des „Tod in Venedig“-Autors und seinem eigenen, namenlos bleibenden, aber allseits bekannten Kritiker-Quälgeist eine Traditionslinie zu ziehen.

Peinlicher wurde es für die versammelten Herrschaften der Bayrischen Akademie, als der unheiligen Martin vom Bodensee sich, in Blickweite zur Münchner Siemenszentrale, mutig vor die mit „moralischem Oberton“ von der deutschen Justiz und mit „moralischer Entrüstung der journalistischen Ermittler“ wegen ihrer „Schmiergeldaktivitäten“ verfolgte & von dem eigenen Konzern verklagte „edle Führung“ von „Deutschlands feinstem Technologiekonzern“ stellte.

Rufer in einer Wüste moralischer deutscher Heuchelei

Hier stehe ich, Martin Walser, und kann nicht anders, als das „zeitgeistige“ Zusammenspiel von Staatsanwaltschaften und Medien anzuprangern. Der lutherische Rufer in einer Wüste moralischer deutscher Heuchelei verweist sogleich darauf, dass er schon 1993 nicht anders konnte, als er den baskischen Opel-Manager José Ignacio López, der zu den deutschen Volkswagen-Werken gewechselt war – unter Mitnahme einiger „Betriebsgeheimnisse“ des amerikanischen Konzern – zur verfolgten Unschuld auf höchster wirtschaftliche Ebene zu erklären. Lopez, den VW nach einem außergerichtlichen Deal mit General Motors in ein baskisches Zweigwerk des deutschen Konzerns versetzte, sei – erklärt der kleine Moritz des internationalen Wirtschaftslebens der Münchner Festversammlung – nur eben deswegen zu dem deutschen Unternehmen gewechselt, weil dieses ihm die „Erfüllung seines Traums“ im Baskenland schneller versprochen hätte als die Rüsselsheimer Amis. Da lachen ja die Wolfsburger Hühner!

Aber die Sorge um das Wohl und Wehe der Chefs ist einem Autor ein Herzensanliegen, der seinen Angestellten-Helden seit jeher nachsagt, sie dächten noch nachts an ihre Chefs, während sie doch wüssten, dass die Chefs nicht an sie denken würden. Diese mitfühlende Sorge um ihre Chefs ist das von ihm so oft beschworene psychologische Elend seiner literarisierten Kleinbürger gewesen. Auch seines?

Hat aber der späte Walser, also der jetzige, nicht längst als Bestellerautor die Kehre von der literarischen Sentimentalität in die amoralische Aggression genommen, seit er in Wirtschaftsredaktionen einbekannt hat, dass außer der Erotik für ihn nichts so geil ist wie „das Geld“ (& seine spekulative Selbstvermehrung)? Und ist aus seiner literarischen Einfühlung in die „Chefs“ deshalb nicht eine leidvolle Identifikation geworden, seit er bei seinem Verlagswechsel von Suhrkamp zu Rowohlt für sein beträchtliches Honorar-Vermögen, das ihm der Freund Siegfried Unseld als Kapitaleinlage im Suhrkamp-Verlag empfohlen hatte, beträchtliche Steuern wutentbrannt bezahlen musste?

So wird auch verständlich, dass er für „Steuerhinterzieher“ wie Klaus Zumwinkel e tutti quanti vollstes Verständnis hat und in einem Gespräch mit „Capital“, das ja für jeden nützlichen Idioten ein offenes Ohr hat, wenn dieser ausspricht, was man selbst sich so recht nicht zu sagen getraut, nun vollmundig erklärt, „der Staat sollte sich mal überlegen, warum so etwas passiert. Es gibt ja wenige Steuerflüchtlinge vom Ausland in die Bundesrepublik, oder?“

“Das hat der Führer nicht gewusst!“

Obwohl ihm von seinem Wohnsitz aus das Fürstentum Liechtenstein geographisch näher ist als z.B. dem Düsseldorfer Zumwinkel, ist das bodenseeische Finanzgenie, Dank Unseld, nie auf die Idee gekommen, dass ihm zur mirakulös-dynamischen Geldvermehrung Liechtensteinische „Stiftungen“ viel näher gelegen hätten – als seine Honorare in Form von Rückstellungen & Einlagen zugunsten des Suhrkamp-Verlags still zu stellen.
Aber Wut & Ärger über (erwischte) deutsche Steuerflüchtige, an deren unschuldigen Machinationen „der Staat“ schuld sei, gehört nicht allein zu Martin Walsers Sorgenpaket. Da ist auch noch der arme Siemensvorstand, der von der Justiz verfolgt wird, die „deutsch, deutsch bis ins Mark“ sei, und von der journalistischen Meute, die bei ihren Lesern ein „wollüstiges Interesse“ einkalkuliert.

„Meine Vermutung ist“, gibt er „Capital“ über Siemens zu Protokoll: „so ein Unternehmen ist derart konstruiert, dass bis zu einer gewissen Ebene alle wissen, wir müssen bestechen, aber wir müssen für den Fall des Falles die Spitze davon freihalten. Dann ist das eine sehr solide, vernünftige Konstruktion“.
Das dachten wohl auch die Siemens-Top-Manager über ihre sehr solide mafiotische Konstruktion: als ein vernünftiges Geschäftsmodell, bei dem im Falle eines Falles nur die Bodentruppen über die Klinge springen müssten, während die Chefs auf dem Feldherrnhügel skandierten: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts – womit der alte Hase und VW-Aufsichtsratsvorstand Ferdinand Piech sich ja auch in der Tat gerade aus dem VW-Korruptions-Sumpf gezogen hatte: obwohl ein Glatzkopf, dennoch am eigenen Schopf, alle Achtung!

Was der Wirtschaftsweise vom Bodensee als „sehr solide, vernünftige Konstruktion“ für ein deutsches Unternehmen bezeichnet, das mit einem ausgeklügelten Bestechungssystem dafür gesorgt hat, dass es an der Welt genesen konnte, hat – wie Ältere wissen, also auch unser weißes Trotzköpfchen weiß – in Deutschland eine lange, bei manchen bis in die Gegenwart reichende Tradition, die allerdings wahrlich „deutsch, deutsch bis ins Mark“ ist und die lautet: “Das hat der Führer nicht gewusst!“

Als Martin Walser – so plauderte er in seinem „Potpourri“ auch noch aus – einen italienischen Journalisten danach fragte, wie der deutsche Schriftsteller in Berlusconis Landen beurteilt werde, bekam er zur Antwort: „troppo tedesco“ – und erbleichte.

Es ist also (für ihn & uns) allemal besser, den späten Martin Walser nur noch als ein komisches Phänomen wahrzunehmen und für erträglich und rechtfertigbar zu halten – als ihn halbwegs ernst zu nehmen, wenn er als Amoral-Apostel und Bonsai-Zarathustra „den Deutschen“ immer mal wieder die Leviten liest.

Jürgen Gottschling

Sep. 2008 | Allgemein, Feuilleton, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren