Mit der Longlist hat die Jury in diesem Jahr nichts falsch gemacht. Die üblichen Einsprüche und Hinweise auf vermeintliche Meisterwerke, die übergangen worden seien, blieben fast ganz aus. Die Shortlist dürfte für mehr Irritation sorgen. Denn die bekannten Namen sind auf der Strecke geblieben, von Ingo Schulze abgesehen.

Die viel gelobten Romane von Marcel Beyer, Karen Duve, Norbert Gstrein, Uwe Timm, Martin Walser und Feridun Zaimoglu haben es nicht geschafft – dafür findet man die Werke weniger durchgesetzter Autoren wie Sherko Fatah, Rolf Lappert und Iris Hanika. Und literarische Extremsportler wie Dietmar Dath und Uwe Tellkamp, denen der Betrieb bisher mit einer Mischung aus Genieverdacht und Reserve begegnet ist.

Eingeläutet sind damit die Wochen der Spekulation und der Favoriten-Wetten. Das ist es ja, was Spaß macht am Deutschen Buchpreis. In diesem Sinn: Ingo Schulzes „Adam und Evelyn“ wird den Preis wohl nicht bekommen. Erstens, weil sein letzter Erzählband „Handy“ schon mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde. Und zweitens, weil es Uwe Tellkamp gibt. Schulzes Roman schildert mit versöhnlichem Blick ein weiteres Mal die heiklen Metamorphosen, die den ostdeutschen Landsleuten in der Wendezeit abverlangt wurden. Neu ist die komödienhafte Leichtigkeit, mit der er in seinem Ossi-Roadmovie das Private und Politische verhäkelt. Das Spiel mit biblischen Motiven rund um den Mythos von Adam und Eva wirft dabei ebensoviel erzählerisches Kapital ab wie das Handwerk der Damenschneiderei. Wenn man liest, wie Adam mit seiner Maßarbeit die Damen beglückt, so dass manche Anprobe zum Beischlaf gerät, möchte man fast selbst in der DDR gelebt haben. Wer sich mit den primären Genüssen begnügte, kam offenbar auf seine Kosten. Und konnte trotzdem im Herzen Dissident bleiben.

Dietmar Daths „Abschaffung der Arten“ betrifft zunächst einmal die Menschen. Nur ein paar versprengte Exemplare unserer Gattung gibt es noch. Das Ende des „Zeitalters der Langeweile“ kam mit der Vergiftung durch „Cytokinmantelkügelchen“ – die menschlichen Hände wurden unbrauchbar, die Zivilisation war nicht mehr zu bedienen. Wie in den Fabeln und Märchen reden die Tiere miteinander, genauer gesagt: Sie betreiben gattungsübergreifende nonverbale Verständigung mittels „Pherinfoncode“. So gesehen, ist dieser dialogreiche Roman eine Übersetzung aus dem Pherinfonischen. Zu den tragenden Tier-Charakteren gehören der herrscherliche Löwe Cyrus Golden, der wölfische Geheimagent Dimitri und die Libelle Philomena, eine sympathische Plaudertasche. Man folgt ihren Erlebnissen und Mitteilungen mit der Neugier auf völlig neue posthumane Zusammenhänge. Die poetische Strahlkraft und rhythmische Geschmeidigkeit von Daths Prosa beeindrucken; nicht selten verläuft man sich aber auch im Gewucher der Erzählstränge oder stört sich an forcierten Einfällen – dann wirkt der Tier-Roman wie Janosch für Promovierte. Trotzdem: „Die Abschaffung der Arten“ ist Tatsachenphantastik, wie es sie seit Döblins „Berge, Meere und Giganten“ hierzulande nicht mehr gegeben hat. Und kein Roman für zweihunderttausend Leser, sondern einer, der vielleicht zweitausend kluge Köpfe glücklich und lesestolz macht.

Iris Hanikas Chancen dürften ebenfalls begrenzt sein. Nicht nur, weil es merkwürdig wäre, wenn nach Katharina Hacker und Julia Franck schon wieder eine Berliner Autorin gewinnen würde. Sondern weil „Treffen sich zwei“ als Roman des Jahres doch zu hoch gehängt wäre. Es beginnt mit einer Beschwörung der Berliner Augustnächste, bei der zunächst die gesuchten Metaphern irritieren. Bald merkt man: Die Überspanntheit gehört hier zum Programm. Emphase und Sarkasmus, Hymnus und Ironie, das Duftige und das Deftige wechseln in diesem schräg-schönen Liebesroman so rasch, wie die Gefühlslagen der verbummelten Studentin Senta und des Systemberaters Thomas von einem Extrem ins andere kippen. Die beiden, deren Blicke erstmals am Kreuzberger Kneipentresen ineinander stürzen, scheinen kaum kompatible Existenzen. Aber die anmutigen Liebes-Tölpel haben Glück miteinander, und schließlich heißt es zuversichtlich unter Tränen: „Wir kriegen das schon hin.“

Bleiben Lappert, Fatah, Tellkamp – drei Werke von außerordentlicher epischer Kraft, mit denen die deutschsprachige Literatur in diesem Jahr ungewöhnlich gut aufgestellt ist. Bücher, die mit souveräner Welthaltigkeit erzählt sind und Sog bei der Lektüre entwickeln; Leseerlebnisse, wie man sie nicht alle Tage hat. Wilbur, der jugendliche Held von Rolf Lapperts „Nach Hause schwimmen“, hat es ein wenig schwerer als die meisten anderen. Sein Leben beginnt im Zeichen der schuldlosen Schuld: Die irische Mutter stirbt bei der Geburt des Jungen in Philadelphia 1980. Sein Vater verschwindet bis auf Weiteres, was heißt: bis zum Finale, wo er am Ende einer von Sehnsuchts- und Hassgefühlen angetriebenen Vatersuche endlich von Wilbur wiedergefunden wird. Als Wrack, von Alkohol und einem Schlaganfall gezeichnet. Was passiert zwischendrin? Viele Geschichten von Verlust und Enttäuschung. Der kleinwüchsige, schmächtige, im konkreten wie metaphorischen Sinn sehr wasserscheue Junge wird von Mitschülern gemobbt und von Lehrern gequält. Immer wieder brüskiert er seine Förderer. Die Jugendstrafanstalt ist ihm bald ebenso vertraut wie eine moderne Klinik für Suizidgefährdete. Der allen Feinden und Lebensgefahren trotzende Bruce Willis kommt zu ungewohnten literarischen Ehren – als Idol eines Jungen, der viel Grund hat, von Stärke und Mut zu träumen. Lappert erzählt so anschaulich und fesselnd, dass man ihm (fast) alles abnimmt, die merkwürdigsten Lebenswendungen und die böswilligsten Zufälle. Nur im letzten Drittel unternimmt er vielleicht ein paar Umwege zu viel. Das Mitreißende dieses Romans verdankt sich vor allem der eindringlichen Menschendarstellung. Keine Nebengestalt ist dem Autor zu gering, um ihr nicht ein Paket an Lebenstragik aufzuladen. Es sind alles Strauchelnde, Fallende, die sich wieder hochrappeln, weiter kämpfen, weiter scheitern. „Nach Hause schwimmen“ ist ein Buch voller Desillusion, aber auch voller menschenfreundlicher Empathie.

Sherko Fatahs „Das dunkle Schiff“ beginnt im Nordirak der achtziger Jahre. Man hat mit den Kriegen und mit der Saddam-Diktatur zu leben gelernt, laviert sich durch den beschädigten Alltag. Bis der Tag kommt, an dem Kerim von den „Gotteskriegern“ in die Berge verschleppt wird – eigentlich hatten sie es nur auf sein Auto abgesehen. Er übt sich in Mimikry, lernt das Turbanbinden, um schließlich beinahe Gefallen zu finden an dem kargen Leben. Da gibt es einen „Lehrer“, der fast unmerklich zur geistigen Autorität für ihn wird. Dieser Mann mit dem „amüsierten Ausdruck im Gesicht“ ist ein Charismatiker, mit einer merkwürdigen Mischung von Sanftmut und brutaler Entschlossenheit. „Das dunkle Schiff“ ist ein spannender, beklemmend gegenwärtiger Abenteuerroman mit ironischem Fundament. Denn Kerim hat gar nicht die Statur eines abenteuerlichen Helden. Normalität wäre eher nach seinem Sinn. Weil er aber unter den Bedingungen der politischen Dauer-Misere keine Chance hat, zum Herrn seines Lebens zu werden, wirkt er fremd in der eigenen Haut, wie ein Mann ohne Eigenschaften. Das Buch ist in einer einfachen, präzisen Sprache erzählt. Die knapp zweihundert Seiten, die in der deutschen Hauptstadt spielen, beeindrucken durch ihren verfremdeten Blick: „Sie leben seit sechzig Jahren in Frieden“, meint der Albaner Ervin über die Deutschen, „alles was sie kennen, ist Tourismus…“ In der Durchdringung der Zeit-Ebenen beweist Fatah viel Kunstverstand. Wenn Kerim aus den Bergen zurückkehrt, ist das Eigentliche jener prägenden Zeit unter den Islamisten noch nicht erzählt. Diese Szenen werden ihn als Erinnerungen erst in Berlin heimsuchen. Er hat mitgemacht bei Massakern an Zivilisten. Und es geht nicht gut aus für den schweigsamen Migrations-Melancholiker. Die Vergangenheit sucht ihn heim. Ein großer Roman, einer der besten des Jahres.

Der eigentliche Favorit aber ist Uwe Tellkamp. Sein Tausendseiter „Der Turm“ zeichnet sich als literarisches Ereignis des Herbstes ab. Das Buch liest sich, wenn man die sperrige Ouvertüre hinter sich gelassen hat, erstaunlich spannend und genussvoll. Es ist ein ostdeutsches Familienepos, das buddenbrooksmäßig mit einer aufwändigen Fest-Beschreibung beginnt. Mit akribischem Realismus wird ein wenig bekanntes Biotop erkundet: das Dresdner Bürgertum vor der Wende von 1989, eine bessere Gesellschaft, in der tradierte Konventionen und Verhaltensformen länger bewahrt blieben als im Westen. Denn in der Nischenkultur der dezidiert antibürgerlichen DDR boten sie ein Refugium, auch wenn der Opportunismus ins Milieu einsickerte. Tellkamps Inventarisierung dieser Lebenskultur ist imponierend. Der Leser lebt mit seinen Figuren – allen voran der adoleszente Christian Hoffmann und der Geistesmensch Menno Rohde – tatsächlich wie mit denen Thomas Manns. Tellkamp liefert das detailsatte Gemälde eines niedergehenden Staatsgebildes, den großen epischen Abgesang auf die vom Grauschleier umhüllte DDR. Wenn er den Preis nicht bekommt, dann womöglich deshalb, weil „Der Turm“ im Oktober schon hoch hinein in die Bestsellerliste ragt. Und jede Jury das Recht auf Eigensinn hat. tno

Sep. 2008 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | Kommentieren