Gedenktage erledigen sich nach dem Gesetz arithmetischer Reihen in Zehner- oder Hunderterschritten. Aber wie funktioniert historische Erinnerung? Dass dieses oder jenes tief im Gedächtnis ankert, ist eine Floskel. Mag das mit Blick auf den 11. September 2001 noch bestritten werden – für den 11. September 1973 gilt es allemal.Dieser Septembertag des Jahres 2001 wurde schon am Tag danach sakralisiert. Thomas Schmid, damals noch bei der FAZ, begann seinen Leitartikel am 17. September 2001 mit einer Plattitüde: „Nichts wird mehr so sein, wie es war.“ Der ebenso theologisch-spekulative wie pathetische Satz sollte nur anzeigen, dass fortan eine andere Melodie gespielt werde. Sein Kollege Günther Nonnenmacher komponierte sie so aus: „Der in Westeuropa angeblich antiquierte Begriff Krieg ist in diesen Tagen … wieder aktuell geworden.“ In der Tat brauchte George W. Bush noch vier Tage bis zu seinem Schlachtruf vom 21. September: „Krieg gegen den Terrorismus!“ Diese Rede erklärte FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher großspurig zum „Gründungsdokument dieser erneuerten Kultur“.
Auf die publizistischen Vorsänger folgten die intellektuellen Chorknaben. Der „Kriegsforscher“ (Manager-Magazin) Herfried Münkler verlangte „heroische Gelassenheit“ von einer Gesellschaft, die er eben noch als „postheroische“ charakterisiert hatte, Martin Walser verglich die Anschläge von New York mit Hiroshima, Paul Nolte, Arnulf Baring und andere Konservative schworen auf „neue Bürgerlichkeit“, der Deutsch-Amerikaner Hans Ulrich Gumbrecht entdeckte seine „patriotischen Gefühle“ und Ulrich Beck „die Verletzlichkeit der entfalteten Zivilisation“. Den Vogel schoss der Soziologe Karl Otto Hondrich ab: „Amerika übt Vergeltung. Solange die kollektive Verletzung ungesühnt ist, verwischt sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse“. Vom Polit-Theologischen ins Deutsche übersetzt: Eine Handvoll von Terroristen haben mit ihrer Tat die USA und ihre intellektuelle Kavallerie in Hochschulen und Zeitungsredaktionen zum rächenden Gott und Schiedsrichter über Gut und Böse gemacht – Rache als Raison d´être.
Zuletzt hörte man solche Töne nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges von deutschen Professoren – zum Beispiel dem Theologen Adolf von Harnack (1851-1930): „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte freie Leute. Der Krieg hat sie erweckt.“ Das Urbild dieser theologisch unterlegten Kriegsphilosophie sind die Aufrufe zu den Kreuzzügen im Mittelalter. Die Erinnerung an den 11. September 2001 verdankt sich der Brutalität und dem Ausmaß der Tat, aber ebenso ihrer fürsorglichen, ins Sakrale ausgreifenden Dauerbewirtschaftung durch die publizistische und akademische Gedächtnisindustrie.
Die ist blind gegenüber der Tatsache, dass sich terroristische Praxis und staatliche Terrorabwehr unter der Parole „Sicherheit“, die schlichte journalistische Beschwörung von Terrorgefahren und die spekulative Erfindung von „Fronten“, „Gruppen“ und „Zentren“ längst gegenseitig in die Hände arbeiten.
Gegen den sakralisierten 11. September 2001 hatte die Erinnerung an den 11. September 1973 kaum mehr den Hauch einer Chance, sich ins Gedächtnis derart „einzugraben“. Das Ereignis – der Putsch des Militärs in Chile und die sich daran anschließende 16-jährige Diktatur General Augusto Pinochets – jährt sich gerade zum 35. Mal.
Was schon weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Salvador Allende hatte am 4. September 1970 die Präsidentenwahl gewonnen und versprochen „die politische zur sozialen Freiheit“ auf einem legalen parlamentarischen Weg weiterzuentwickeln. Meinungs- und Pressefreiheit blieben in seiner Amtszeit ebenso erhalten wie die Parteienvielfalt. Bei den Wahlen vom 12. März 1973 erreichten die Parteien der Volksfront (Unidad Popular) freilich nur 43,4 Prozent der Stimmen. Was die konservative und rechte Opposition zu Recht als Niederlage der Linken betrachtete, feierte diese selbst als eine fast gewonnene Wahl. Allende hielt sich an die Verfassung, aber die linksradikalen Gruppen forderten angesichts der heraufziehenden Putschgefahr den bewaffneten Kampf.
Dem kamen die Militärs zuvor. Sie putschten nach einem Streik der Transportunternehmen, der von der US-amerikanischen Firma ITT finanziert wurde. Die Generäle Pinochet, Mendoza, Leigh und Admiral Merino riefen den Ausnahmezustand aus und ließen massenhaft Menschen verhaften, foltern und verschwinden. Es herrschte bald Ruhe im Land.
Fast der gesamte Subkontinent, ob in Chile, Uruguay, Argentinien oder Bolivien (in Brasilien herrschte seit 1964 eine Junta der Generalität), fiel für mehr als ein Jahrzehnt in die Hand von Diktaturen und eine verlorene Zeit der Lähmung und Pogrome. Besonders in Chile richtete sich – unter Billigung und Beistand der US-Regierung – der staatlich gelenkte Terror ein, der Tausenden das Leben kostete. Nach dem Ende der Despotie am 10. März 1990 dauerte es nochmals fast 20 Jahre, bis sich eine Kommission mit der Aufarbeitung der von den chilenischen Obristen begangenen Verbrechen beschäftigte. Als rundum kompatibel mit dieser Art von Staatsterrorismus erwies sich die neoliberale Marktwirtschaft, die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds Chile diktiert und von Milton Friedmans Chicago Boys administriert wurde. Niemand redet mehr von dieser „Cohabitation“, die seinerzeit alles andere als eine Notgemeinschaft war.
Jürgen Gottschling