Intuitionen und Gefühle sind keine Argumente. Aber sie sind nicht per se vernunftwidrig; im Gegenteil können Gefühle der Vernunft den Weg bahnen, wenn das, was sie «sagen», auch tatsächlich gesagt, wenn es artikuliert wird. Das ist ein alltäglicher Vorgang, auch in der Philosophie. In einem eindringlichen Essay hat Michael Sandel einem allgegenwärtigen Unbehagen Ausdruck verliehen und die Argumente skizziert, die sich aus diesem Unbehagen gewinnen lassen. Das Gefühl, das er in Worte kleidet, ist das einer Beunruhigung über die bio- und gentechnologische «Optimierung» der menschlichen Natur, die möglich geworden zu sein scheint.

.Wieso – will der in Harvard lehrende Philosoph wissen – stellt sich das Gefühl eines «moralischen Schwindels» ein, wenn der Phantasie eines human engineering freier Lauf gelassen wird? Vielleicht deswegen, weil etwa Kinder, die quasi auf Bestellung und mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet in die Welt geholt werden, nicht mehr in demselben Sinne frei und selbstbestimmt wären wie die anderen, auf «herkömmliche» Weise gezeugten und geborenen? Vielleicht. Aber woher kommen dann die Vorbehalte gegenüber erwachsenen Menschen, die sich – aus freien Stücken – biotechnologisch aufpeppen lassen, die beispielsweise mehr Muskeln oder leistungsfähigere graue Zellen wollen?

Wohlgemerkt: Es geht nicht um therapeutische Eingriffe. Oder vielmehr: Es geht um sie und darum, sie von «perfektionierenden» Eingriffen – Heilen von Eugenik – noch zu unterscheiden. Auch wenn diese Unterscheidung medizintechnisch nicht immer zweifelsfrei zu treffen sein mag, so macht sie doch einen moralischen Unterschied und sich als solcher bemerkbar – eben in den beunruhigenden Gefühlen, die angesichts des genetic engineering aufkommen. Um den argumentativen Gehalt, der in diesem Unbehagen steckt, zu bergen, reiche – so Sandel – das in liberalen Gesellschaften gängigste Vokabular, die «Sprache der Autonomie», nicht aus. Selbstperfektionierung lässt sich ja eben als Fall von Selbstbestimmung verstehen und rechtfertigen.

Die Sprache, die Sandel stattdessen empfiehlt, ist die Sprache der Ehrfurcht vor dem Leben – vor dem Leben als «Gabe». Die Wertschätzung des «geschenkten» Lebens – eine Form von Demut – verdanke sich, wie er zugibt, «zum Teil» einem «religiösen Gespür». Doch bedürfe sie nicht unbedingt der Religion; sie lasse sich ebenso in «säkulare Begriffe» fassen. Verloren zu gehen drohe, wenn jene Wertschätzung verblasse, die «Offenheit für das Unerbetene» – eine Haltung, die Eltern gegenüber ihren Kindern für gewöhnlich ausbildeten. Diese elterliche Tugend zersetzt sich freilich nicht erst in der «genetischen Revolution». Sandel ist der – nachvollziehbaren – Ansicht, der Unterschied zwischen Eltern, die ihre Kinder früh schon in die Leistungssteigerungsmaschinerie der Wettbewerbsgesellschaft hineinzwingen, und Eltern, die sich Kinder nach Mass gentechnologisch anfertigen liessen, falle moralisch nicht sehr ins Gewicht.

Zwei weitere «Schlüsselelemente unserer moralischen Landschaft» sieht Sandel in Gefahr. Der Sinn für Solidarität – für ein geteiltes Schicksal – verkümmere, wenn Menschen sich ihre einst naturgegebenen Talente als Verdienst zugutehalten könnten. Und auch die Verantwortung werde durch den entfesselten prometheischen Drang tangiert; das Problem sei allerdings nicht ihre Erosion, sondern ihre «Explosion»: Die Verantwortung, die durch genetische Manipulationen eingegangen wird, sprengt die Grenzen des menschlich Verantwortbaren.

Michael Sandel – daran erinnert Jürgen Habermas in einem instruktiven Vorwort zur deutschen Ausgabe des Essays – hat mit seinem Buch «Liberalism and the Limits of Justice» vor einem Vierteljahrhundert eine Debatte in Gang gebracht, die als Kontroverse zwischen Kommunitarismus und Liberalismus in die Annalen der politischen Philosophie eingegangen ist. Illiberal war der «Kommunitarist» Sandel schon damals nicht; dass seine heutige Stellungnahme zur Gentechnik, indes eine – wie Habermas schreibt – dezidiert konservative ist, liegt auf der Hand. Allerdings zeichnet sich in dem «Plädoyer gegen die Perfektion» ab, dass diese konservative Einstellung nicht mit Schicksalsergebenheit verwechselt werden will. Michael Sandel, der drei Jahre Mitglied des President’s Council on Bioethics war, bricht am Ende noch eine Lanze für die Forschung an embryonalen Stammzellen. tno

Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Aus dem Amerikanischen von Rudolf Teuwsen. Berlin University Press, Berlin 2008. 175 S., € 24.90.
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Jul 2008 | Allgemein | Kommentieren