Olivier Roy, Forschungsdirektor am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris und Professor an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, ist einer der führenden Experten zum Thema des politischen Islam. Er stellt etliche gängige Vorstellungen in Frage, die den Diskurs über den radikalen Islamismus dominieren:

Um dem radikalen Islamismus richtig zu begegnen, muss man ihn auch richtig verstehen. Nun wird dieses Phänomen generell als extreme Ausprägung einer traditionellen islamischen Kultur und Religion betrachtet; symptomatisch hiefür ist die Tatsache, dass die Reflexion über den radikalen Islam primär um die Frage kreist: «Was sagt der Koran?» Gleichzeitig wird die Kultur der muslimischen Welt wie eine profane Ausdrucksform der Religion wahrgenommen: Man spricht von «islamischer» Kunst, von der «muslimischen» Stadt, wo man kaum je den Ausdruck «christliche Stadt» verwenden würde und der Begriff «christliche Kunst» auf die sakrale Kunst beschränkt ist. Man geht also davon aus, dass im Islam Religion und Kultur ungleich stärker miteinander verbunden sind als im Christentum. Deshalb werden die Auswüchse des radikalen Islamismus im Okzident häufig als eine Art Quintessenz und Avantgarde der muslimischen Kultur schlechthin betrachtet, während niemand in Europa politische Extremisten (etwa die Baader-Meinhof-Gruppe) oder fundamentalistisch-religiöse Sekten anders denn als Randgruppen einordnen würde.

Diese Wahrnehmung erklärt den Erfolg von Schlagworten wie «Kampf der Kulturen» oder «Dialog der Kulturen». Die Vertreter dieser scheinbar gegensätzlichen Modelle gehen im Grunde von ein und derselben Idee aus: In der islamischen Welt bestehe ein enger Zusammenhang zwischen Religion und Kultur, die Muslime in Europa blieben «Orientalen», und in erster Linie gehe es darum zu wissen, «was der Islam sagt». Gewiss, von da an divergieren die Ansichten der beiden Faktionen: Die Vertreter des Kulturkampf-Modells sehen keine Möglichkeit zum Kompromiss ausser einer radikalen Reform des Islam oder einer nicht minder radikalen Absage der europäischen Muslime an ihre Religion (diese Haltung vertritt etwa Ayan Hirsi Ali); die Befürworter des Dialogs wollen sich stattdessen mit den traditionellen religiösen Instanzen und den politischen Repräsentanten der islamischen Welt verständigen, um solcherart die Radikalen zu isolieren und einen «guten» Islam zu propagieren.
Falsche Prämissen

Aber die Grundidee, auf der die Modelle von «Kampf» oder «Dialog» der Kulturen basieren, ist falsch. In der Radikalisierung spitzt sich die Reaktion der muslimischen Gesellschaft auf die Moderne im Allgemeinen und auf den «Imperialismus» des Abendlandes im Besonderen zu. Die traditionelle Verbindung zwischen islamischer Religion und Kultur ist in die Krise geraten. Sowohl für die Vertreter des radikalen politischen Islam (al-Kaida) als auch für die religiösen Radikalen (die Salafisten) ist die Radikalisierung somit Konsequenz eines Kulturabbaus. Die Gewalttätigkeit der islamischen Extremisten ist nicht die Reaktion einer traditionellen Kultur, sondern vielmehr die Reaktion auf den Verlust dieser Kultur; damit lässt sich auch das Auftauchen eines für die islamische Welt neuen Phänomens wie der Selbstmordattentate erklären.

Gewiss muss hier zwischen dem politischen und dem religiösen Islamismus unterschieden werden, auch wenn in Europa die Auffassung verbreitet ist, dass der politische Radikalismus eine unmittelbare Folge des religiösen sei. Eine Studie über die militanten Aktivisten von al-Kaida erweist jedoch, dass das nicht zutrifft. Das Terrornetzwerk rekrutiert primär in Randgruppen: unter Immigranten der zweiten Generation in Europa, aber auch unter Konvertiten – tatsächlich ist al-Kaida die «islamische» Organisation, in der Konvertiten am stärksten, nämlich mit 10 bis 20 Prozent, vertreten sind. Zudem haben die Muslime, die der Organisation angehören, kaum je einen religiösen Bildungshintergrund, sehr wenige von ihnen kommen aus religiösen Organisationen; sie radikalisieren sich vielmehr im direkten Blick auf militante und gewalttätige Aktionen, ohne Umweg über die religiöse Praxis. Beim radikalen politischen Islam handelt es sich also nicht um eine interne Radikalisierung der muslimischen Gemeinschaft auf religiöser Basis.

Die Salafisten wiederum finden ihre erste und wichtigste Zielscheibe in den traditionellen islamischen Kulturen – im Sufismus, in der Musik, in Brauchtum und Tradition einschliesslich der Kleidung und der Essgewohnheiten. Die «islamische» Kleidung (verschleierte Frauen mit Handschuhen und langen Regenmänteln, Burkas) ist eine relativ neue Erfindung. Das Halal-Fast-Food, das den islamischen Speisegeboten entspricht, hat unter Muslimen mittlerweile Kebab und Couscous überrundet, deren Liebhaber sich nun in erster Linie unter den Nichtmuslimen finden.

Was also wäre zu tun? In Europa waren die obligaten Reaktionen auf die Bedrohung durch den radikalen Islamismus bisher entweder Appelle an die gemässigten, aber traditionellen Muslime im eigenen Land oder der Ruf nach einer «Reformation» des Islam. Doch die Vorstellungen der gemässigt-konservativen Muslime sind überholt und beschränken sich in der Regel darauf, die Bande zwischen der Migrantengemeinde und dem Herkunftsland wieder enger zu knüpfen (dies streben beispielsweise türkische Organisationen wie die Ditib in Deutschland an). Die Konsequenz einer solchen Haltung wäre eine noch grössere Entfremdung der nachfolgenden Generationen von ihrem europäischen Umfeld und eine Integrationskrise – von den Interferenzen mit den Krisenlagen im Nahen Osten schon gar nicht zu reden. Und diejenigen, die nach einem Luther des Islam rufen, sollten zunächst einmal Luther lesen! Ohnehin können die europäischen Staaten, welche die Trennung zwischen Kirche und Religion verwirklicht haben, eigentlich nicht in theologischen Fragen intervenieren, ohne gegen ihr eigenes Prinzip zu verstossen.

Keine Spielart des Multikulturalismus

Fördern sollte man stattdessen jene Entflechtung von Kultur und Religion, die heute das Markenzeichen der Globalisierung ist. Die Säkularisierung funktioniert: Indem sie das Religiöse vom Kulturellen separiert, hat sie zwar sicherlich zur Radikalisierung des Ersteren beigetragen – das zeigt sich auch in der konservativen Erstarrung der katholischen Kirche oder dem Vormarsch protestantischer Freikirchen. Anderseits erlaubt sie es aber auch, als Gläubiger und Staatsbürger zu leben. Man müsste also eine Entwicklung des europäischen Islam hin zur reinen Religion unterstützen, freilich ohne dabei theologische Fragen zu stellen. «Reine» Religion – das hiesse Glaubensfreiheit ohne Konzession an andere Kulturen, Predigten in europäischen Sprachen, Moscheen, die (mit oder ohne Minarett) ihren Raum in der urbanen Landschaft behaupten dürfen, religiöse Erziehung nach Modellen, wie sie für Christen oder Juden vorgesehen sind. Der Islam als Religion muss gleiche Behandlung erfahren wie die anderen Religionen, er muss dieselben Privilegien geniessen und den gleichen Einschränkungen unterstellt sein.

Vor allem aber darf man den Islam nicht den Kategorien des Multikulturalismus unterordnen. Ein Muslim ist in erster Linie ein Gläubiger, sei er nun muslimischer Herkunft oder Konvertit; umgekehrt ist aber nicht jeder Mensch muslimischer Herkunft zwangsläufig auch Muslim. Er kann Atheist, Agnostiker, der Religion gegenüber gleichgültig oder – Konvertit sein (man denkt selten an die wachsende Zahl von Muslimen, die sich dem Christentum zuwenden) Alles für die Religion, soweit sie sich im Rahmen der geltenden Gesetze hält, nichts für die Kultur.

Wir sollten ein europäisches und universales Modell der Religiosität entwickeln und die Muslime nicht länger auf eine vergangene und überholte, fortan eher imaginäre als reale Kultur zurückverweisen. Al-Kaida hat den jungen Muslimen das Modell des modernen, nihilistischen Helden offeriert. Schaffen wir das Gegenmodell eines europäischen Muslims, der Glauben und Modernität zu vereinen weiss – und zwar im Geist der Hoffnung und nicht der Verzweiflung. Das ist übrigens genau, was die Mehrzahl der europäischen Muslime will – wenn man sich die Mühe nimmt, sie anzuhören.

Jul 2008 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | Kommentieren