jurgen-gottschling.jpgDie Tour de France läuft gerade mal wieder auf vollen Touren und kaum einer wollte auch diesmal wieder je zuvor etwas  vom Doping auch nur gehört haben. Während in der Kultur die Fangemeinden der Stars proportional zum Anstieg der Drogenexzesse wachsen, erwarten die Sportanhänger Übernatürliches von den Athleten. Dabei ist schon in der Antike gedopt worden, berichtet wird z. B. davon, dass dass die Atlethe Unmengen an Stierhoden aßen; Kanalschwimmer in den Niederlanden waren die Ersten, deren Fall einer verbotenen Einnahme von Drogen in Europa bekannt wurde, und zwar im Jahr 1865. Zur Zeit der Jahrhundertwende häuften sich Berichte über Doping, vor allem durch Stoffe wie Kokain, Morphin, Strychnin und Koffein.

 Gedopt wird auch in der Kunst

Sicher besteht ein Unterschied zwischen einem Maler, der zum weißen Pulver greift, um seinem von einer tödlichen Nervenkrankheit gezeichneten Körper Kreativität zu entlocken, und einem kraftstrotzenden Radrennfahrer, der hin und wieder eine Linie zieht, um letzte Reserven zu mobilisieren. Aber worin bitteschön besteht der Unterschied genau?

Warum fühlt sich der Sportzuschauer „betrogen“, wenn er erfährt, dass sein Idol gedopt hat, wohingegen kein halbwegs ernsthafter Kunstfreund dem Meister die Gunst entziehen würde, nur weil dieser kifft und kokst, um sich auf Touren zu halten? Warum sind Jan Ullrich die Fans davongelaufen, als bekannt wurde, dass er Kunde des spanischen Eigenblutdoktors Eufemiano Fuentes gewesen ist, während Pete Dohertys Fangemeinde mit jeder Entziehungskur, die der Rocker abbricht, wächst?

Eine wesentliche Differenz liegt darin, dass der Künstler schon immer den Ruf des Abgründigen genoss, wohingegen wir uns unsere Sportler so durch und durch rein wünschen, wie es die glatten Oberflächen der antiken Speer- und Diskuswerfer suggerieren.

Früheste Fälle bei Olympia

Dass aber diese Statuen einst wild nachgerade „psychodelisch“ bemalt waren, haben wir ebenso aus unserem kulturellen Gedächtnis verbannt wie das Wissen, das Philostratus und Galerius, zwei griechische Schriftsteller, aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert überliefern: Nach den Olympischen Spielen versuchten die Athleten, die Götter mithilfe kleiner Zeusstatuen zu besänftigen, weil sie wieder einmal die Spielregeln übertreten und ihre Körper mit unlauteren Mitteln aufgeputscht hatten.
Dem durchschnittlichen Griechen, der gewohnt war, dass sein Obergott selbst in trügerische Gestalten schlüpft, um Nymphen zu verführen, dürfte diese Vorgehensweise nicht weiter anstößig erschienen sein.

Nun ist Berlin nicht Athen, und Deutschland bildet sich traditionell trotz Baurechtsämtern und alledem viel darauf ein, zu den etwas weniger korrupten Ländern dieser Welt zu gehören. Wenngleich dieser Glaube durch Amtsleiter, Manager und Gewerkschaftler in den vergangenen Jahren erschüttert worden ist, sind wir dennoch weit davon entfernt, schlicht mit der Achsel zu zucken, wenn wir erfahren, dass sich ein Leistungsträger „unsauberer“ Mittel bedient hat. Doch worin genau liegt der Betrug, den dopende Sportler begehen?

Glaubt man den Beichten geständiger „Dopingsünder“, besteht der erste Betrug im Selbstbetrug. Der ehemalige Radprofi Jörg Jaksche schildert seinen Weg an die Epo-Nadel so: „Ich wollte aufhören, ich fühlte mich unwohl. Die Spritzerei war mir einfach zu asozial. Aber mit der Zeit habe ich mich daran gewöhnt. Irgendwann kamen die ersten kleinen Erfolge, du wirst professioneller und siehst vieles nicht mehr […] Die Medizin gehört zu deinem Alltag.“

Der Selbstbetrug der Sportler

Macht man sich darüber hinaus klar, dass etwa das berüchtigte Eigenblutdoping vorzüglich damit zu rationalisieren ist, dass mit dem eigenen Blut ja letztlich nichts anderes geschehe als bei einem Höhentraining, wird begreiflich, warum so viele Radprofis noch immer beim Leben ihrer Kinder schwören, sie wüssten nicht einmal, wie man „Doping“ buchstabiert. Doch die Bereitschaft zur Selbsttäuschung liegt nicht nur auf Seiten des Sportlers: Zwar runzelt der Zuschauer – durch die brutalstmögliche Dopingaufklärung in den Medien misstrauisch geworden – bei Unschuldsbeteuerungen neuerdings die Stirn, doch ist der Radler sympathisch genug und noch nicht wirklich überführt, vermeidet er die unangenehme Frage, wie es sein kann, dass sein „sauberer“ Held konstant im vorderen Feld mitfährt – wenn alle anderen doch gedopt sind.
Die Selbsttäuschung reicht noch weiter: So nimmt die Öffentlichkeit ganze Sportarten, allen voran den „König“ Fußball, vom Dopingverdacht aus. Zwar fragte sich der eine oder andere Sportfeuilletonist nach dem diesjährigen Europameisterschaftsspiel Niederlande – Russland, ob es mit rechten Dingen zugegangen sein kann, als die Russen auch in der 120. Minute noch wie die Strauße über den Platz fegten, während die Niederländer Matrosen beim Landgang nachts um halb Eins glichen. Doch die allgemeine Sehnsucht, sich wenigstens den Fußball „rein“ zu erhalten, ist offensichtlich so groß, dass selbst klare Hinweise auf flächendeckendes Doping in dieser Sportart einfach ignoriert werden. Je mächtiger der Wunsch, desto größer die Bereitschaft zur Selbsttäuschung.
Das vordergründig schlagendste Argument, warum Doping im Sport „böse“ sei, besagt, dass es den Grundgedanken des Sports, den eines fairen Wettbewerbs, zerstört. Dies erklärt auch, warum die Allgemeinheit auf Doping in der Kunst so deutlich weniger empört reagiert: Zwar konkurrieren Maler, Sänger und Schriftsteller ebenso erbittert um Ausstellungen, Platinalben und Bestseller wie Sportler um Medaillen, Podestplätze und Weltrekorde, doch löst sich in der Sphäre der Kunst die klare Bipolarität von Sieg und Niederlage, die den Kern des sportlichen Wettstreits ausmacht, in das diffusere Konzept von Erfolg und Misserfolg auf.

„Doping ist wie der Kalte Krieg“

Betrachtet man das Argument der Unfairness genauer, erweist es sich allerdings als stumpfes Schwert: Die Chancengleichheit der um den Sieg wetteifernden Sportler ist ohnehin eine Schimäre: Radfahrer mit größerem Lungenvolumen treten gegen Radfahrer mit kleinerem Lungenvolumen an, Langstreckenläufer aus dem afrikanischen Hochland sind von Kindesbeinen an ihren Flachlandkollegen überlegen, Fußballmannschaften aus reichen Ländern haben mehr Geld für die Betreuung als solche aus ärmeren Ländern. Konsequent zu Ende gedacht, würde die Vision eines komplett chancengleichen Sports darauf hinauslaufen, dass am Schluss alle zeitgleich über die Ziellinie kommen. Das Herz des Radikaldemokraten mag bei einer solchen Vorstellung schneller schlagen – das des Sportfans dürfte weniger glücklich sein.

Endgültig aber ad absurdum geführt wird der Vorwurf der Unfairness, ist man bereit einzusehen, dass es sich bei dopenden Sportlern nicht um vereinzelte „schwarze Schafe“ handelt, sondern um ein systematisches Phänomen. Oder wie Jörg Jaksche sagt: „Es war ja nicht so, dass ich eine Atombombe hatte und die anderen kämpften immer noch mit der Machete.“ Der niederländische Tour-de-France-Dritte von 1983, Peter Winnen, beschreibt die Lage mit einem ähnlichen Bild: „Es ist wie im Kalten Krieg: Die eine Seite rüstet auf, die andere zieht nach, das Gleichgewicht ist wieder hergestellt.“

Und so wie der Kalte Krieg einen beängstigenden Beipackzettel hatte, lässt sich nicht leugnen, dass auch die allermeisten Dopingpraktiken unerwünschte Risiken und Nebenwirkungen bergen. Seit der Staat das Rauchen in öffentlichen Räumen verboten hat und seinen Zöglingen am liebsten vorschreiben würde, was sie sich in die Lunchbox packen sollen, klingen paternalistische Bedenken gut – und in der Tat stellt es ein immenses Unrecht dar, wenn totalitäre Staaten (oder totalitäre Eltern) heranwachsende Sportler zwangsdopen. Doch liegt das Problem hier eher im Zwang und weniger im Doping. Denn das Argument, Sport verwandelte sich erst durch die Einnahme illegaler Substanzen in eine gesundheitsschädigende Betätigung, kann nur denjenigen überzeugen, der sich noch nie auf dem Schwebebalken gequält und noch nie versucht hat, den Mont Ventoux auf zwei Reifen zu erklimmen oder seinen Kopf hingehalten, als ein Fußball mit hundert Stundenkilometern angeflankt kam.

Übernatürliches auf natürlichem Weg leisten

Die tieferen Gründe für die Aversion gegen Doping müssen woanders liegen. Trotz der Dauerberichterstattung über Doping im Radsport – und Bereichen der Leichtathletik – herrscht immer noch eine karikaturhaft naive Vorstellung davon, wie Doping die Leistungsfähigkeit eines Sportlers beeinflusst. Mithilfe von Doping errungenen Siegen haftet der Ruch des „Billigen“ an. Aber glaubt die Couch-Potatoe wirklich, ein einziger Rennfahrer habe jemals die Tour de France gewonnen, nur weil er mit der Dopingspritze im einen Arm und der Chipstüte in der anderen Hand auf der Veranda gesessen hätte, während sich die Kollegen monatelang im Sattel schunden?

Der bekennende Kiffer Walter Benjamin notiert in seiner Schrift über Haschisch: „Man geht die gleichen Wege des Denkens wie vorher. Nur scheinen sie mit Rosen bestreut.“ Wie sehr wünscht man sich, ein Jan Ullrich möge endlich den Wahrheitsmut aufbringen und sagen: „Man fährt die gleichen Serpentinen nach Alpe d’Huez wie vorher. Nur scheinen sie mit etwas weniger Dornen gespickt.“

Die Faszination für sportliche Ausnahmeleistungen hat etwas Paradoxes: Zwar will der Zuschauer den Sportler Übernatürliches vollbringen sehen. Dies aber soll auf natürlichem Wege geschehen. Und somit steht der „Dopingsünder“ letztlich als Betrüger an der Schöpfung da. Dies erklärt auch, warum die Empörung so schnell religiös-fanatische Züge annimmt. Und warum sie in der Kultur weitgehend fehlt: Der Gedanke des „Wunderkindes“, des Naturgenies, spielt hier seit der Romantik eine große Rolle. Im Ausnahmekünstler bewundern wir ohnehin Zivilisatorisches, vom Menschen Erschaffenes. Deshalb fühlt sich auch kein Leser betrogen, wenn er erfährt, dass Edgar Allan Poe unter Opiumeinfluss geschrieben und Aldous Huxley auf Meskalin geschworen haben soll.

Kampf gegen das Mittelmaß

Doch der Mainstream rauscht derzeit zurück in Richtung Natur. Und so ist es kein Wunder, dass eine Gesellschaft, der die Gentomate als größte anzunehmende Bedrohung gilt, am liebsten auch ihren Sportlern das Biosiegel aufkleben würde. Dabei stellten physische Höchstleistungen noch nie einen Triumph der Natur dar, sondern einen des menschlichen Willens. Und das nicht erst seit Leni Riefenstahl.

Der Harvard-Philosoph Michael Sandel warnt in einem Essay, dass wir als Gesamtgesellschaft dabei seien, die Demut, den Respekt vor unseren natürlichen Grenzen zu verlieren. Tatsächlich begleitet die Gefahr der Hybris die Menschheit seit Anbeginn und wird durch jeden technischen Fortschritt angefacht. Doch was bedeutet es, wenn wir uns vom Prinzip des „höher, schneller, weiter“, das von jeher der Zivilisationsmotor war, verabschieden?

in vino veritas?

Gesellschaften können nicht nur am Größenwahn zugrunde gehen. Sondern ebenso und erst recht im geduldigen Mittelmaß versinken. Und entgegen populärer Selbsteinschätzung ist letzteres in Demokratien die realere Gefahr. Deshalb brauchen wir Individuen, die um jeden Preis über die Grenzen des Natürlichen hinausgehen wollen. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass in den Mythen, die von solchen Grenzüberschreiten handeln, verbotene Substanzen eine prominente Rolle spielen: Eva biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis. Faust wurde für seinen Teufelspakt mit einem dubiosen Trank belohnt. Belohnen wir die Fausto Coppis, Tom Simpsons und Marco Pantanis wenigstens posthum damit, dass wir den Sport vom Reinheitsgebot und der damit verbundenen Heuchelei erlösen.

Aber, trotz alledem, und damit wir uns recht verstehen: Jürgen Gottschling dopt ausschließlich mit Risling! Eine andere Droge kommt ihm nicht an den Schreibtisch !

Jul 2008 | Allgemein, In vino veritas | Kommentieren