Unser Gesprächspartner sieht die Gründe für fundamentalistischen Terrorismus nicht (wir meinen hingegen: nicht ausschließlich) im Islam, sondern in Politik und generationsabhängiger Radikalisierung.
Rundschau: Olivier Roy, beruhen die kulturellen Differenzen zu den in Europa lebenden Muslimen auf einer unzulässigen Vereinfachung?
Ja, zumindest auf einer Vereinfachung. Das gewöhnlich vom Islam gezeichnete Bild ist das einer muslimischen Gemeinschaft – in der alle gleich sind in der Einhaltung des Islam -, welche die westlichen Werte ablehnt und ins Zentrum Europas die Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens hineinträgt. Tatsächlich ist die muslimische Population in Europa sehr unterschiedlich, nicht allein wegen unterschiedlicher Wurzeln, sondern weil ihre Mitglieder unterschiedliche, komplexe und oftmals auch einander entgegengesetzte Entscheidungen treffen.
Wie sieht dies in der Praxis aus?
Einige versuchen so weit wie möglich eine unberührte Kultur – wie ihre Sprache, Fasten oder Heiratsbräuche – zu bewahren, andere spielen mit der Säkularisation, sprechen besser Französisch oder Deutsch als Arabisch oder Türkisch und versuchen, sich zu integrieren. Wieder andere – weitestgehend verwestlichte – versuchen eine rein religiöse Praxis in ein westlich-säkulares Umfeld umzuformen, indem sie sich an den Modellen protestantischer und jüdischer Formen der Religion orientieren. Und schließlich gibt es einige „Neugeborene“, die von Konvertiten begleitet werden, welche die Vorstellung einer entkultivierten fundamentalistischen Marke des Islam – gemeint ist der Salafismus – fasziniert. Er kritisiert die traditionellen muslimischen Kulturen in ähnlicher Weise wie die westlichen Kulturen.
Westliche Glaubensgemeinschaft oder fremde Kultur – was denken Sie, wollen muslimische Mitbürger uns erzählen, was sie sind oder zu sein versuchen – lasse man sie nur … ?
Wir müssen unterscheiden zwischen Glaubensgemeinschaften und ethnischen Gemeinschaften. Integration wird üblicherweise geleistet auf Kosten traditioneller ethnischer Kulturen. Aber der Islam kann und sollte als Glaubensgemeinschaft umgestaltet werden und auf dem gleichen Fuß wie andere Religionen stehen. Praktizierende muslimische Gläubige fordern Gleichheit und nicht den Status als kulturelle Minderheit. Dennoch werden sie systematisch als fremde ethnische Kultur zurückgesetzt. Die emporstrebende muslimische Mittelschicht im Westen will in der Tat als eine westliche Glaubensgemeinschaft beachtet werden und nicht etwa als fremde Kultur. Das Markenzeichen religiöser Praxis und Wahrnehmung wird gewöhnlich durch eine wachsende gebildete Mittelschicht verteidigt, die ein wichtiger Faktor ökonomischen Wachstums ist.
Wenn das nicht gelingt, sehen sich dann die Europäer einer Explosion gegenüber, wie nicht wenige befürchten?
Die Situation ist nicht so dramatisch. Die Frage gilt nicht so sehr den muslimischen Migranten versus „weiße Gesellschaft“, denn zu viele Muslime sind bereits integriert, auch wenn ihre Integration nicht genügend anerkannt wird. Sollten wir scheitern, werden gewiss drei Weisen der Radikalisierung anstehen: eine Randgruppe einer zweiten Generation Jugendlicher, ungeachtet ihres ökonomischen und sozialen Hintergrundes, wird durch eine gewalttätige islamistische Radikalisierung in Versuchung geführt; die Masse der jungen, nicht wahlberechtigten, joblosen Schulabbrecher wird den Kleinverbrechen und der Schattenwirtschaft frönen, mit Auswüchsen von Zusammenstößen mit der Polizei, allerdings ohne religiöse Dimension. Schließlich werden einige traditionell konservative Milieus sich in kulturelle und religiöse Ghettos abschotten.
Ist die Begegnung zwischen Europa und dem Islam Teil eines Kampfes der Kulturen – wie wir immer mal wieder hören, lesen oder ganz praktisch erleben?
Die Debatte über die dänischen Cartoons, über Gotteslästerung und Freiheit der Kunst wird nicht zwischen einem liberalen Westen und einem obskuren Osten geführt. Die meisten religiösen Konservativen Europas befürworten eine Begrenzung der Freiheit des Ausdrucks – so gewann die französische katholische Kirche vor zwei Jahren eine Gerichtsschlacht, in der es um die Verbannung einer Darstellung des „Letzten Abendmahles“ ging. Die Apostel waren darauf durch halbnackte Frauen ersetzt. Die meisten katholischen Bischöfe sind gegen die Schwulen-Hochzeit. Und nebenbei gesagt, haben viele Muslime eine sehr kritische Sicht zu der fehlenden Freiheit und Demokratie in arabischen Staaten, deren Regime von uns, dem Westen, unterstützt werden wie beispielsweise Tunesien oder Ägypten. Es ist keine Debatte zwischen Kulturen, wohl aber eine zwischen Werten. Zudem ist es eine Debatte, die innerhalb der Grenzen Europas geführt wird: Sollten wir etwa die katholische Kirche Spaniens als muslimisch bestimmen, nur weil sie die Säkularisation ablehnt, wie auch die Trennung von Kirche und Staat, die Schwulen-Hochzeit und die absolute Freiheit der Religion? Die modernen Merkmale des Fundamentalismus sind nicht Produkte traditioneller Kulturen, sondern im Gegenteil Erzeugnisse einer Krise der traditionellen Kulturen, das Produkt der De-Kultivierung und Globalisierung. Religiöse Spannungen verweisen stets auf Krisen traditioneller Kulturen – und sind nicht deren Ausprägung.
Was soll der Westen gegen El Kaida und den Islamismus tun?
El Kaida und der Islamismus sind nicht dasselbe. Nicht alle Fundamentalisten sind politische Radikale, und es steckt tatsächlich eine kleine Religion in El Kaida. Fundamentalismus ist ein permanenter Trend in jeder Religion und es ist sinnlos, von außerhalb einen „guten Islam“ zu befördern; der Fundamentalismus wird immer einige Leute erreichen. Die Aufgabe ist, Raum zu schaffen für einen glaubwürdigen Hauptstrom des Islam, der die religiösen Ansprüche der Masse der Muslime erfüllt.
Ist es denn nicht aber so, dass bereits doch schon im Koran Suren enthalten sind, die Andersgläubige – und das ist noch nicht tief hineingegriffen – in die Hölle wünschen?
Wir sollten nicht in die Falle Bin Ladens tappen: Der Westen denkt, dass der Islam die Wurzel der Radikalisierung ist, also sehen wir automatisch in Bin Laden den Vorreiter der muslimischen Welt. Vielmehr sollten wir ihn bekämpfen als Terroristen, nicht als Muslim. Faktisch werden junge Menschen nicht deshalb zu Terroristen, weil sie den Koran lesen oder in die Moschee gehen. Sie tun es um der Wirkung willen. Sie sind die wirklichen Erbberechtigten der Ultralinken der 1970er Jahre: besessen von Amerika und der Wall Street, sind sie antiimperialistischer als die Befürworter der Scharia. Ein Blick in die auf Video aufgezeichneten Inszenierungen der Enthauptungen der Geiseln im Irak genügt, um zu sehen, dass es sich um Reproduktionen des Mordes an Aldo Moro durch die Roten Brigaden handelt – das hat nichts zu tun mit der traditionell muslimischen Vorstellungswelt.
Ach ja, was Sie nicht sagen – ein Quantensprung also von den „Ultralinken der 70er Jahre“ hin zur Scharia? Also wirklich …
Es ist nun aber mal so: die Geschichte junger Terroristen ist die eines individuellen Heldensprungs zur Rettung der Umma der religiösen Gemeinschaft aller Muslime, vor der westlichen Barbarei. Die Religion spielt keine besondere Rolle in dem Prozess individueller Radikalisierung. Wir sollten diesen Heroismus delegitimieren, indem wir die Geschichte vom Heldentum entlarven, anstatt die muslimische Gemeinschaft aufzufordern, den Terrorismus zu verdammen – sie tun es, aber niemand scheint es zu hören. Lasst uns also aufhören, über Religion und Kultur zu reden, was weniger wichtig ist, sprechen wir besser von Politik und generationsabhängiger Radikalisierung.
Was bedeutet Ihnen heute „Multikulturalismus“?
Gar nichts. Es handelt sich um einen Slogan, der versucht die Koexistenz verschiedener Gruppen zu managen, zu einer Zeit, in der sich kulturelle Identitäten in einer Krise befinden. Der Multikulturalismus nimmt an, dass der Islam als Religion eingebettet ist in eine fremde Kultur, die sich selbst von einer zur anderen Generation aufrechterhält. Man kann ein guter Bürger sein und sich zur selben Zeit mit einer Kultur identifizieren, die nicht die vorherrschende ist. Mit anderen Worten, die bürgerliche Beziehung zur Nation kann vermittelt werden durch einen kommunitaristischen Sinn der Zugehörigkeit. Aber das Problem ist, dass sich die religiöse Wiedererweckung – entweder unter fundamentalistischen oder spiritualistischen Formen – bei Entkopplung von irgendeinem kulturellem Bezug entwickelt. Es gedeiht auf einer De-Kultivierung: Die jungen Radikalen sind tatsächlich vollständig verwestlicht. Bei Wiedergeborenen und Konvertiten wird der Islam nicht als kulturelle Reliquie gesehen, vielmehr als universelle, globale Religion, die bis hinter spezifische Kulturen reicht wie den Evangelikalismus.
Islamische Reformer betonen, dass der Islam, richtig gedeutet, in keinem Konflikt mit Europa stehe.
Ja, natürlich. Im selben Sinne wie das konservative orthodoxe Judentum, evangelikaler Protestantismus oder konservativer Katholizismus nicht für Konflikte sorgen – oder es eben doch tun. Sie haben eine unterschiedliche Agenda, sie blühen auf in verschiedenen Räumen, aber sie stimmen in einigen Grundregeln überein, was die demokratischen Institutionen und die Regulierung von Uneinigkeit angeht. Niemand fordert den Papst auf, sich seiner Position der Abtreibung zu vergewissern, um ein besserer Europäer zu sein. Religionen können eben nicht einfach unter das Joch der Politik gebracht werden – und dies ist letztlich die Ursache, weshalb Demokratien eine mehr oder weniger große Trennung zwischen Staat und Kirche etabliert haben.
Europas Problem mit den Muslimen, die einen Migrationshintergrund haben, würde auch dann existieren, wenn es einen unabhängigen, blühenden palästinensischen Staat gäbe – und wenn die USA, Großbritannien und einige andere europäische Staaten nicht in den Irak eingefallen wären?
Ja, natürlich. Wir tendieren dazu, den Einfluss der Krise des Nahen Ostens für die Radikalisierung von Muslimen im Westen überzubetonen. In Paris bringt eine pro-palästinensische Demonstration auf der Straße nicht mehr als 10 000 Menschen zusammen, obwohl zwei oder drei Millionen Muslime in und um Paris herum leben. Der Mörder von Theo van Gogh in Holland erwähnte niemals Irak, Afghanistan oder Palästina, sondern ausschließlich die Blasphemie. Wir werden hier mit einem Generationenproblem konfrontiert – was exakt dasselbe Problem mit den Ultralinken in den 70er gewesen ist -, nicht mit einer geostrategischen Frage. Bin Laden attackierte New York vor und nicht nach der Irak-Invasion der USA. Die Wurzeln der Radikalisierung liegen im Westen, nicht im Nahen oder Mittleren Osten.
Lasst uns die Integration von Muslimen und den Islam als westliche Religion behandeln und aufhören, den Fokus auf die Kriege im Nahen und Mittleren Osten zu richten, auf die wir keinen Einfluss haben, und von denen die europäischen Muslime viel weiter entfernt sind, als es angenommen wird. Die so genannte muslimische Wut gegen den Westen geht die Masse der westlichen Muslime, abgesehen von Großbritannien, nichts an. In Kontinentaleuropa betrifft die Radikalisierung des Islam einzig den Rand von der entwurzelten zweiten Generation von Muslimen. Sie haben ansonsten keine reelle Existenz, ausgenommen in unseren Albträumen.
Die aber – ich mag das so nicht stehen lassen – oft genug in traurige Realität münden …
Olivier Roy, geboren 1949, ist Forschungsdirektor am Nationalen Forschungszentrum (CNRS) in Paris.
Auf Deutsch erschien bei Siedler gerade Roys Buch „Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens“, 191 S., 19,95 €.
Kann den Muslimen in Europa ein Gefühl der Heimat vermittelt werden – als europäische Muslime? Können sie dann eine kulturelle und ökonomische Bereicherung sein?