Der Dalai Lama – ein „Ozean der Weisheit“? Ein Vorbild für menschenfreundlichen Umgang miteinander? Nicht ganz, sagt Buchautor Colin Goldner. Auf der angeblich strahlenden Ikone hat er störende dunkle Flecken gefunden.
Es wird viele geben, die dieses Buch mit Mißvergnügen lesen, und mehr noch, die es in blindgläubiger Ereiferung gar nicht erst lesen, sondern es lieber sofort zum Machwerk erklären. Man kennt das. Gerade bei uns ist die Tibet-Lobby stark, vor allem lautstark, und in nicht mehr zählbare Gruppen und „Zentren“ verzweigt, von der Tibet Initiative Deutschland über Otto Graf Lambsdorff bis zu den allerwärts sprießenden Shambala-Zirkeln. Und der Dalai Lama hat sich inzwischen so hoch über jede Kritik erhoben, daß daneben der Vatikan auf eine schier demokratische Durchsichtigkeit stolz sein kann. Der Dalai Lama ist immunisiert, und selbst nachweisbare, aber unangenehme Fakten erreichen kaum noch diejenigen, die in erster Linie in Ruhe darüber nachdenken müßten: sinnsuchende Anhänger, religiöse Nomaden und Meditationsspekulanten in aller Welt.
Der Autor legt eine kritische Lektüre der Autobiographie des Dalai Lama vor und dazu siebzehn vertiefende „Exkurse“. Er hat sich seine Sache nicht leicht gemacht. Seit 1980 bereist er immer wieder Tibet, China und Indien. Fast zwei Jahre lang arbeitete er als Entwicklungs- und Sozialhelfer in Nepal. Und für das vorliegende Buch führte er 1996 und 1998 umfängliche Recherchen in Dharamsala an, dem Sitz des Dalai Lama und der tibetischen Exilregierung in Indien. Im Gegensatz zu bisherigen Lamaismus-Kritikern belegt er, was er behauptet, und – schlimmer noch – belegt manchen Tibet-Adepten das Fehlen jeglicher Nachweise ihrer immer wilderen Behauptungen.
Aber, werden die Ertappten sagen, die geraubte Unabhängigkeit Tibets!
Hier muß man, um festen Boden unter die Füße zu kriegen, sich schon die Mühe machen, in die Vergangenheit Tibets zu schauen (auch wenn sich die Exil-Tibeter „aggressiv“, wie Goldner schreibt, dagegen wehren). Wir sehen einmal davon ab, daß Tibet noch bis in die Mitte dieses Jahrhunderts von einem rückständig feudalen, theokratischen, frauen- und freiheitsfeindlichen Mönchsregime beherrscht wurde. Es stimmt zwar, legt Goldner die historische Rechtslage dar, daß 1949 die Chinesen in Tibet einmarschierten, aber auch, daß die „Unabhängigkeit“ Tibets seit 1913 lediglich de facto bestanden hatte und von China und den meisten anderen Staaten nicht anerkannt worden war. 1951 schließlich wurde das sogenannte „Siebzehn-Punkte-Abkommen“ getroffen, mit dem (Punkt 1) „das tibetische Volk in die Volksrepublik China zurückkehrte“. Punkt 4 ließ das politische System in Tibet und die Funktionen des Dalai Lama ausdrücklich „unverändert; die Beamten bleiben in ihren Ämtern wie bisher“. Sprache und Schrift sollten „entwickelt“, „Religion, Sitten und Gebräuche respektiert“ werden.
Am 24. Oktober 1951 sandte der Dalai Lama ein Telegramm an Mao Tsedong, in dem er die Annahme des „Siebzehn-Punkte-Programms“ offiziell bestätigte. (Als Staatsoberhaupt konnte er – und nur er – das.)
Seine späteren Behauptungen, Delegationsführer Ngapö Ngawang Jigme sei nicht autorisiert gewesen, das Abkommen zu unterzeichnen, man habe ihn gezwungen und überdies die auf dem Dokument verwendeten tibetischen Siegel gefälscht, sind reine Propaganda; desgleichen sein fortgesetztes Unterschlagen des Umstandes, daß er selbst das Abkommen ausdrücklich bestätigt und damit ratifiziert hatte. Die von der exiltibetischen Regierung verbreitete und allenthalben kolportierte Behauptung, es sei das „‘Siebzehn-Punkte-Abkommen‘ nie rechtsgültig abgeschlossen und von den Tibetern zurückgewiesen“ worden, ist nachweislich falsch. Im übrigen wird in den Publikationen der Pro-Tibet-Szene das Abkommen in aller Regel so verkürzt dargestellt – oftmals wird überhaupt nur Punkt 1 zitiert -, daß es den Anschein gnadenloser Repression erweckt.
Die Völkergemeinschaft richtete sich auf das Abkommen ein. Und zwar bis heute. „Für die Bundesregierung wie für die gesamte Staatengemeinschaft“, hieß es demzufolge in einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Petra Kelly, „ist geklärt, daß Tibet völkerrechtlich Teil des chinesischen Staatsverbandes ist.“ 1959 floh der Dalai Lama während antichinesischer Unruhen in Lhasa nach Indien. Unterwegs kündigte er das Siebzehn-Punkte- Abkommen auf. Ob jedoch diese mit einem Ruch von Sezession behaftete Aufkündigung völkerrechtlich wirksam war, ist bis heute nicht geklärt.
Und warum die tibetischen Verhandlungen mit China nicht vom Fleck kommen, begründet Goldner so:
Für [den Hamburger Tibet-Experten] Hoppe wirkt „störend an der exiltibetischen Haltung, insbesondere an der des Dalai Lama, daß sie sich einerseits ein durchgängig friedfertiges Mäntelchen umhängt, unter dem sich machtpolitische und territoriale Forderungen verbergen“. Der größte Teil der über Tibet redenden und schreibenden Politiker und Journalisten sitze vermutlich dem vom Dalai Lama und seiner Exil-Regierung bewußt kultivierten Mißverständnis auf, es gehe ihm lediglich um eine Autonomie der bis 1951 unter der Kontrolle Lhasas stehenden Gebiete. Tatsächlich geht es ihm um eine die Schaffung eines selbständigen Groß-Tibet (ob nun unter chinesischer Suzeränität oder in völliger Unabhängigkeit, sei dahingestellt). Mit dieser Forderung verhindert er letztlich die grundlegende Klärung der im internationalen Recht diskutierten Frage nach tibetischer Eigenstaatlichkeit und Selbstbestimmung vor der chinesischen Invasion.
Aber, so die Ertappten weiter, die brutale Unterdrückung der Tibeter durch die Chinesen!
Auch hier darf man dem Dalai Lama nicht alles glauben, was er sagt. Er gibt beispielsweise für die Aufstände von 1959 gern die Zahl von „siebenundachtzigtausend Toten als Opfer militärischer Aktionen“ an, als handle es sich dabei allein um tibetische Opfer; dabei waren fünfundsiebzig Prozent der in Wahrheit fünfundsechzigtausend Toten Chinesen. Ein noch weitergehender Mißbrauch wird mit der Horrorzahl von 1,2 Millionen Opfern von Invasion und Besatzung getrieben- eine Behauptung, die von Fanatikern zur „Ermordung von über 1,2 Millionen Häftlingen“ hochgeplappert wird. Ohne die Brutalität chinesischer Militärs oder Gefängnisse im geringsten herunterzuspielen, zweifelt Goldner diese Zahl mit eigenen Belegen an. In Dharamsala selbst hat er eine sehr präzise Liste der politischen Häftlinge von 1987 bis 1997 entdeckt: Sie enthält exakt 1720 Namen. Ende 1997 waren laut dieser Liste noch 330 Personen in Haft. Und für die systematische Folterung der Häftlinge findet Goldner „keine Belege“.
Sogar die angebliche Sinisierung Tibets entlarvt Goldner als unwahre Behauptung: Der chinesische Bevölkerungsanteil liegt – einschließlich des Militärs – bei 14 Prozent (zählt man nur die privaten Siedler, sogar bei weniger als fünf Prozent). Von einem „kulturellen Genozid“ kann also unter vernünftigen Menschen keine Rede sein. Im Gegenteil: Tibetisch ist Pflichtfach in den Schulen, und Klöster werden schon allein deswegen restauriert, um Touristen anzuziehen. Und dem Tibetan Hospital in Lhasa ist ein universitäres College angeschlossen, in dem die traditionelle Medizin unterrichtet wird. Von solcher Kulturpflege spricht der Dalai Lama wohlweislich nicht.
Aber, hält die Tibeter-Gemeinde dem Kritiker nun vor: der gewaltfreie Friedensnobelpreisträger!
Wieder sieht die Wirklichkeit anders aus. Nach eigener Aussage greift der so Gepriesene „gelegentlich“ zum Luftgewehr („Ich bin ein guter Schütze“), um den ihn störenden Vögeln vorm Fenster „Schmerz zuzufügen“. Seine Katze „mußte“ er, weil sie Mäuse jagte, „oft bestrafen“. Und ganz prinzipiell ist er unter Umständen ganz und gar nicht gewaltfrei:
Wenn jemand beispielsweise gerade im Begriff ist, etwas sehr Schlimmes zu tun, etwas, das vielen Menschen Schaden zufügt, so sollte man in so einem Fall, von Mitgefühl motiviert, versuchen, dies zu verhindern. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, wenn Gewalt das einzige Mittel ist, wenn nur Gewalt jene böse Tat verhindern kann, so ist in einem solchen Fall Gewalt, eine harte Reaktion, erlaubt und notwendig.
Damit hätte er auch den Kosovo-Einsatz der NATO begründen können. Ohnehin schaut er sich insgeheim gern Kriegs- und Actionfilme an, gab der indischen Atombombe seinen ausgesprochenen Segen und nannte selbst nach dem U-Bahn-Attentat des Sektenfanatikers Asahara den Terroristen „einen Freund, wenngleich nicht unbedingt einen vollkommenen“ („Die Frage von Autor Goldner nach den Opfern seines Terroristenfreundes quittierte er mit jenem dämlichen Grinsen, das seine AnhängerInnen und VerehrInnen so zauberhaft an ihm finden.“). Wie man am besten diese bösen Taten schon nach ihrer nur gedanklichen Planung verhindert, schildert er mit wünschenswerter Offenheit:
Theoretisch gesprochen, wenn jemand sich auf das Verüben von bestimmten Verbrechen festgelegt hat, durch deren Ausführung negatives Karma geschaffen würde, und wenn es keine andere Wahl gibt, diese Person an den Verbrechen und dem entsprechenden, für ihn jetzt und in allen zukünftigen Leben sehr negativen Karma zu hindern, dann würde eine reine Motivation des Mitgefühls das Töten dieser Person theoretisch rechtfertigen. Es wäre ein Töten aus Erbarmen.
Der Dalai Lama propagierte diese „präventive Todesstrafe“ (Goldner) 1994 vor der Theosophischen Gesellschaft. Wenn man weiß, daß für Theosophen die Begründung selbst des Nazi-Mordes an Juden und Behinderten nur deren selbstverdientes schlechtes Karma ist, dann tun sich bei solcher lamaistischen „Tötung aus Erbarmen“ Ungeheuerlichkeiten auf.
Nicht einmal von dem zölibatären, kontemplativen Mönchstum des Lamaismus bleibt bei Goldner viel übrig. Was bisher sicher nur wenigen bekannt war: Der tantrische Weg zur Läuterung geht nach gar nicht allzusehr geheimen Vorschriften über allerlei sexuelle Akte. Gegen solitäre Onanie ist da zum Beispiel „nichts einzuwenden, sofern sie nur und ausschließlich ‘mit der eigenen Hand‘ vorgenommen werde“. Ganz scharf sind die Mönche aber auch auf sogenannte „Gefährtinnen“, je jünger, kindlicher, umso geeigneter. Mit dem Verprechen eines karmischen Gewinns machen sie sich gefügig. Der wahrhaft Erleuchtete allerdings ejakuliert dabei nicht mehr, sondern holt sich aus der Frau nur ihre „weibliche Energie“, um selbst vollkommen zu werden (da die Frau zur Erleuchtung ohnehin unfähig ist). Zu dem eindeutigen Ausbeutungsverhältnis nahm der Dalai Lama dann auch höchstpersönlich Stellung, auf seine Weise:
„Seit etwa drei Jahrzehnten wächst das Verbreitungsgebiet des Buddhismus weltweit. (…) Gleichzeitig sind manchmal etwas ungute Situationen entstanden und Schwierigkeiten aufgetreten, die auf ein Übermaß an blindem Glauben von seiten der Schüler zurückzuführen sind, aber auch auf gewisse Lehrer, die aus der Abhängigkeit ihrer Schüler Vorteil gezogen haben. Das hat gelegentlich zu Skandalen, zu sexuellem oder finanziellem Mißbrauch geführt.“ Ausdrücklich wälzt der Dalai Lama die Schuld an dem Mißbrauch auf die jeweiligen SchülerInnen ab, die „ihre spirituellen Lehrmeister zu sehr verwöhnen; sie verderben sie.“
Man fragt sich, was da noch viel zu verderben ist, nachdem man sich durch all die vulgärmagischen koprophilen, nekrophilen, ja sadistischen Sexual-Praktiken speziell des Kalachakra-Ritus durchgelesen hat, die alle auf den Weg der Erleuchtung führen sollen. Aus gutem Grund erklärt der Dalai Lama, dies alles müsse verborgen gehalten werden, „weil es für den Geist vieler nicht geeignet ist. (…) Eine offene Verbreitung ist untersagt, und die Übenden müssen Geheimhaltung gegenüber jenen praktizieren, die keine Gefäße für diesen Pfad sind.“ Schöner Pfad! Selbst nach einem locker kulturrelativistischen Schlenkerer muß der Vorwurf der menschenverachtenden Ausbeutung aufrechterhalten bleiben.
Im Medien-Event „Dalai Lama“ ist davon natürlich nichts zu sehen. Auch Biolek, dem die Informationen des Buches vor seiner Talkshow mit dem Dalai Lama zugänglich gemacht wurden, schrumpfte vor dem Gast zum Speichellecker. Der Mönch kommt gut, und die Spenden fließen. Wer sich aber nicht für dumm verkaufen läßt, der wird Goldners gründliche Denkmalsenthüllung mit bleibendem Gewinn lesen. gg
Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs
Alibri Verlag, Aschaffenburg 1999 455 Seiten, 40 Abbildungen und Fotos, 20,5 x 13,5 Zentimeter (Gerade ist – Mai 08 – eine aktualisierte Fassung im Alibri Verlag erschienen).