Das Bekenntnis Oskar Beckers fiel mir dieser Tage wieder ein. Einer seiner Berufskollegen ist in der Münchner U-Bahn von zwei jungen ausländischen Männern schwer verletzt worden, weil er sie zur Einhaltung des Rauchverbots ermahnt hatte. Das Wort vom Spiesser warf dann der Feuilletonchef der «Zeit» in die Debatte. In einem Video-Blog erklärte Jens Jessen, wie er den Auslöser der «zweifellos nicht entschuldbaren Tat», die Ermahnung der Raucher durch einen alten Lehrer, beschreiben würde: als Glied einer unendlichen Kette aus «Gängelungen, blöden Ermahnungen, Anquatschungen [. . .], die der Ausländer, namentlich der jugendliche, hier ständig zu erleiden hat». Der «deutsche Spiesser» zeige überall sein «fürchterliches Gesicht».

Einmal ganz simpel gefragt: Läuft, wer auf Einhaltung des Rauchverbotes pocht, Gefahr, die Grenze zum Spiessertum zu überschreiten? Spontan möchten wir antworten: Ach Unsinn – warum sollte bereits die Forderung, Rücksicht zu nehmen, spiessig sein? Ganz so einfach aber liegen die Dinge nicht. Das fundamentale Recht, unbehelligt bleiben zu dürfen, das wir doch gern als den «Vorrang der negativen Freiheit» gegenüber aktiv wahrgenommenen Freiheiten verteidigen wollten, würde, absolut gesetzt, zu einem Leben hinter geistigen Jägerzäunen führen. Wie will man hier die Grenze ziehen?

«Spiesser» ist keine soziologisch objektivierte Kategorie. Man könnte zwar eine Typologie des Spiessers aus Zuschreibungen anfertigen. Danach sind Spiesser selbstgerechte, humorlose Ordnungshüter, die allergisch auf Kindergeschrei und Äusserungen der Lebensfreude reagieren, sie sind gehässig, angepasst und latent xenophob, da sie Neuem und Fremdem prinzipiell abwehrend gegenüberstehen. Jedoch handelt es sich um dehnbare Kriterien, und wie ihr Gebrauch zeigt, ist die Beschimpfung von jemandem als Spiesser ausgesprochen wohlfeil. Gemeint sind immer die anderen. Die Parameter für Humorlosigkeit oder übersteigerte Ordnungsliebe liegen im Auge des Betrachters, und der kann, wenn er ehrlich ist, oft genug an sich selbst beobachten, wie sich seine Massstäbe verschieben. Zu nächtlicher Stunde aufgedrehte Stereoanlagen oder zerschlagene Bierflaschen auf Kinderspielplätzen zum Beispiel, die er einst vielleicht mit einem «das sehe ich nicht so eng» quittiert hat, können ihn in einer späteren Lebensphase auf die Palme bringen.

Reaktionen des Hasses

Ob der pensionierte Lehrer in der Münchner U-Bahn spiessig oder couragiert gehandelt hat, wird sich ohne genaue Kenntnis seines Auftretens nicht entscheiden lassen. Interpretationen, wonach nicht der Pensionär, sondern die beiden Schläger sich einer Zudringlichkeit hätten erwehren müssen, wirken abseitig, wenn man weiss, dass bei solchen Typen bereits ein offener Blick genügt, um Prügel zu riskieren. Jessens Video-Blog machte das Opfer zum Täter. Das hat ihm eine Flut von Verwünschungen eingetragen, zum Teil so hasserfüllt geifernd, dass einem nun wiederum um den Journalisten bange werden kann.

Die wüsten und vor allem die rechtsradikalen Voten legen es nahe, Hermann Glasers Studien zur «Spiesser-Ideologie» zu zitieren. Nach Glaser war der philiströse Antiintellektualismus Wegbereiter der braunen Barbarei. Aber wäre der Mob, der sich heute im Internet austobt, wirklich mit spiessig zutreffend beschrieben? Eines scheint sicher: Mit den Mitteln einer Sternheimschen Komödie sind diese Stimmen nicht mehr zu erfassen – und Oskar Becker, mein liebster, freilich nicht ganz waschechter Spiesser, würde sich in ihnen nimmer wiedererkennen. jg

Mai 2008 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | Kommentieren