stoa.jpgRainer Marten philosophiert über die Möglichkeit des Unmöglichen. Jürgen Habermas hat süffisant bemerkt, Ernst Bloch läsen nur noch Theologen und Germanisten. War denn gar nichts dran? Rainer Marten, der in Freiburg Philosophie lehrt, aus dem engsten Kreis um Martin Heidegger hervorgegangen ist und heute als sein wohl kompetentester Kritiker amtiert, handelt von der Möglichkeit des Unmöglichen.

Manche Menschen sind Stoiker. Stoiker pflegen die Kunst des Möglichen – desjenigen Möglichen, das Wirklichkeit werden kann. Das Mögliche, das nicht oder so gut wie sicher nicht wirklich werden kann, schlagen sie sich aus dem Kopf, oder sie reißen es sich, falls nötig, aus dem Herzen. Solche Menschen sind mit Marc Aurel, dem römischen Philosophenkaiser des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, überzeugt, es sei Wahnsinn, dem Unmöglichen nachzujagen.

Keine Beschränkung auf das Mögliche

Nicht alle Menschen, vermutlich die wenigsten, sind Stoiker. Sind sie keine, besitzen sie zwar ebenfalls einen Sinn für Mögliches, denn ohne ein gewisses Gespür für Realismus kann niemand leben. Aber ihr Möglichkeitssinn ist weiträumiger, durchlässiger; er beschränkt sich nicht auf das Mögliche, das wirklich werden kann. Menschen dieses Sinnes lassen sich auch Mögliches, das ein praktisch Unmögliches sein kann, durch den Kopf gehen, oder sie bewegen es in ihrem Herzen. Sind solche Menschen von etwas überzeugt – ähnlich wie die Stoiker davon, daß es Wahnsinn sei, nach Unmöglichem zu streben? Vielleicht glauben sie, was Gabriel, der Verkündigungsengel, der ungläubig fragenden Maria zur Antwort gibt: «Bei Gott ist kein Ding unmöglich.» Oder sie hegen, wer weiss, wie Christian Morgenstern eine poetische Liebe zur Unmöglichkeit.
Oder aber sie lehnen es, widerborstig, einfach ab, sich in das Unvermeidliche zu schicken, auch wenn es nicht nur scheinbar unvermeidlich ist. Diese Nichtbereitschaft, das Nicht-Hinnehmbare hinzunehmen, sei ein Grundzug von Schriftstellern, religiös Gläubigen und Philosophen, schreibt der Philosoph Rainer Marten in einem dicht gewobenen Traktat über die «Möglichkeit des Unmöglichen». Das Buch, das eines der selten gewordenen ist, die dem Leser keine Chance geben, schnell zu lesen, und das mit bisweilen überraschenden Gedanken fasziniert, will Philosophen, religiös Gläubige und Schriftsteller über ihr Tun aufklären; und es will zeigen, so könnte man sagen, wo das, was einst Utopie hieß, seinen Sitz im Leben des Geistes hat.

Luftschlösser, ewiges Leben und ewiger Friede …

Schriftsteller, religiös Gläubige und Philosophen – so Marten – setzten, «ob sie es wissen oder nicht», auf Poesie. Als Poesie gilt dem Autor – recht unkonventionell – alles Sinnen und Trachten, das auf praktisch Unmögliches aus ist: auf Luftschlösser, ewiges Leben, ewigen Frieden. Marten schlägt sich nicht auf die Seite Marc Aurels, den er in der ersten von zehn Meditationen als philosophischen Aufklärer skizziert – als Aufklärer allerdings, der Eindeutigkeit erstrebe und der darum über die Aufklärung nicht aufgeklärt sei. Aufgeklärte Aufklärer wüßten nämlich, daß ihre Desillusionierungen ambivalent seien, daß sie den Menschen nicht nur «Lebenskraft» gäben, sondern auch nähmen – Lebenskraft, die den Menschen offenbar aus Unmöglichkeiten zufließen, die sie für möglich zu halten geneigt sind.
Aufgeklärte Aufklärer erkennen also den «Reichtum der menschlichen Möglichkeiten», der die Möglichkeit des Unmöglichen einschließt, an. Jedoch tun sie – tut Martens – das nur, wenn diejenigen, die Unmögliches ersinnen oder erstreben, eingestehen, daß das Ersonnene oder Erstrebte lediglich eine «poetische» Wirklichkeit besitze. daß Schriftsteller dies zugeben, kann man sich allenfalls vorstellen; daß religiös Gläubige es tun, kaum. Sie müßten zu akzeptieren bereit sein, daß Gott nur in ihrem Glauben lebt. Und die Philosophen? Ausser Marc Aurel widmet sich Martens in seinen Miniaturen Platon, Kant, Adorno, Anselm und Leibniz (daneben sind das Gilgamesch-Epos und die Bibel die Quellen, aus denen er schöpft). Es ist unwahrscheinlich, daß alle diese Philosophen ihre Liebe zur Weisheit mit der Weisheit selbst verwechselt hätten.
Das vollkommene Gemeinwesen oder der ewige Friede unter den Völkern sind begrifflich ausgearbeitete Ideen oder Ideale, an denen die Wirklichkeit gemessen wird. Welchen Unterschied macht es, hinzuzufügen, sie entsprängen der «poetischen» Einbildungskraft ihrer Urheber? Entweder taugen sie zum Analysieren dessen, was geschichtlich gegenwärtig ist, oder nicht. Wo ist Martens Pointe? Will er, daß die Idealisten unter den Philosophen ein für alle Mal der «utopischen» Vorstellung abschwören, ihre Ideale liessen sich dereinst vollkommen realisieren? Das, wird man einwenden können, liegt doch bereits im Begriff des Ideals beschlossen.

Philospophie als Schreibkunst

Es geht Marten um etwas anderes, um Philosophie als Lebenskunst, genauer wohl: um Philosophie als Schreibkunst. Der Reichtum der menschlichen Möglichkeiten soll, einschließlich der möglichen Unmöglichkeiten, erfahrbar werden. Wie geht das? Indem man ihn sich erschreibt und dessen eingedenk bleibt, daß das Unmögliche, dem man dabei im Raum der «Poesie» begegnet, nur in ebendiesem Raum Verbindlichkeit habe. Eine solche zeitweilige Distanzierung von der wirklichen Wirklichkeit, die er «Lebenswirklichkeit» nennt, gestattet Rainer Marten sich. Mehr aber nicht. Wer die Ambivalenz der eigenen Freiheitsmöglichkeiten – denkend, schreibend – ausgekostet hat, muß wieder zurück ins Leben. Ergeht es ihm wie Gilgamesch, dem König von Uruk? Nach Martens Deutung strebt Gilgamesch auf der vergeblichen Suche nach Unsterblichkeit «über sich hinaus, um, durch Erfahrungen verwandelt, im Wesentlichen er selbst zu bleiben». Ist das das Ziel einer lebenskünstlerischen Philosophie – im Wesentlichen man selbst zu bleiben? tno

Rainer Marten: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion. Karl Alber, Freiburg i. Br. / München 2005. 203 S.

Apr. 2008 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren