Diese Entdeckung verändert die Sicht auf die frühen Jahre des Komponisten: In diesem Werk setzt er geschickt Echo-Effekte ein. Anregungen dafür holte er sich in sehr jungen Jahren. Damit ist der Fund ein weiterer Beweis: Auch Bach war ein Wunderkind.

Seine Spur verliert sich in Königsberg. So endete nicht nur die Geschichte des Bernsteinzimmers, sondern bis vor wenigen Tagen auch diejenige eines großartigen Orgelwerks von Johann Sebastian Bach. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Stück aus der Königlichen Universitätsbibliothek verschollen.

Die ersten fünf Takte tauchten 1950 im Bach-Werkeverzeichnis von Wolfgang Schmieder auf, ohne Angabe von Ort und Herkunft, ein Rätsel. Anders als das Bernsteinzimmer ist die Choralfantasie „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ jetzt wieder aufgetaucht, zwar nicht das Original, aber immerhin eine akribische Abschrift eines Bachkenners erster Wahl, des Thomaskantors Wilhelm Rust (1822-1892).

Musikwissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle ersteigerten unlängst einen Teil von Rusts Nachlass. Als Mitglied der Bachgesellschaft erarbeitete Rust die erste Werkausgabe seines großen Amtsvorgängers. Das Blatt aus Königsberg kopierte er am 8. September 1877, wie er am Ende der heute vergilbten Abschrift notierte.

In die Bachausgabe fand es jedoch keinen Eingang. Es wurde vergessen. „Dass sich in dem kleinen Stapel von Papieren Rusts dieser Schatz befindet, das konnten wir natürlich nicht ahnen“, sagt Stephan Blaut, einer der Entdecker des Orgelwerks. Blaut und seine Kollegen Michael Pacholke und Kathrin Eberl-Ruf regten den Kauf des Rust-Nachlasses an. 2500 Euro kostete er die Universität Halle, ein Vielfaches ist er nun wert. Wie gelangte das Werk nach Königsberg und ist es überhaupt echt?

„Wahrscheinlich wurde schon in Königsberg nur eine Kopie aufbewahrt. Aber die Geschichte dieser Noten können wir bis zu Wilhelm Friedemann Bach zurückverfolgen, das ist ein Beleg für die Authentizität der Musik“, sagt Blaut. Friedemann, Sohn Johann Sebastian Bachs, war Organist an der Hallenser Marktkirche. Einem seiner Schüler, Johann Christian Bach aus einer Nebenlinie seiner verzweigten Musikerfamilie, übergab Friedemann die Komposition seines Vaters.
Bach spielt mit Echo-Effekten

Aus Johann Christians Händen gelangte sie 1814 in die Sammlung des Johann Nikolaus Kötschau. Nach dessen Tod nahm sich der Buchnarr Friedrich August Gotthold des Nachlasses an. Dieser verfügte schließlich, dass seine 55.000 Bände umfassende wertvolle Bibliothek in Königsberg bewahrt werden sollte. Der Zweite Weltkrieg aber verstreute sie in alle Winde.

„Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“ bereichert den Werkkatalog Bachs nicht nur um die BWV-Nummer 1128, sondern um die wohl bedeutendste Choralphantasie des Komponisten. Bisher kannte man in dieser alten norddeutschen Gattung lediglich „Christ lag in Todesbanden“ BWV 718. „Das neue Stück ist in seiner Stilistik ein Schwesterwerk der bisher bekannten Komposition. Ich gehe deshalb davon aus, dass es in der Weimarer Zeit zwischen 1708 und 1710 entstanden ist“, sagt Peter Wollny vom Bacharchiv in Leipzig.
Die Choralphantasie zeigt Bach als einen Komponisten, der über die höchste Kunstfertigkeit verfügt. Das Pedal ist gegenüber der zweiten Fantasie deutlich aufgewertet. Von Anfang an werden die Stimmen gleichwertig und individuell geführt. Das Stück ähnelt darin eher einer von Bachs kunstvollen Triosonaten als den späteren Choralvorspielen. Geradezu manieristisch ist der Mittelteil gehalten. Getreu der norddeutschen Tradition eines Franz Tunder oder Dietrich Buxtehude spielt Bach hier mit Echo-Effekten, der Organist muss zwischen den Manualen hin- und herwechseln. Bach zerlegt dafür die Melodie des Kirchenlieds in einzelne Teile, verfremdet sie bis zur Unkenntlichkeit, umspielt, vergrößert und verkleinert die Motive. „In dieser Brillanz konnte das damals eben nur einer und das war Johann Sebastian Bach“, sagt Stephan Blaut begeistert.
Der Impuls für die Komposition könnte von Bachs berühmter Lübeck-Reise 1705 herrühren, meint Wollny. In Lübeck wirkte Dietrich Buxtehude, der berühmteste Organist der Zeit und ein Großmeister der Choralphantasie. Eines seiner Hauptwerke „Freut euch liebe Christen gmein“ kannte Bach bereits seit er 13 war. Auch diese Erkenntnis ist noch recht neu. 2006 fanden Wollny und seine Kollegen in Beständen aus Weimar eine Abschrift des Buxtehude-Werks, geschrieben von der Feder des ganz jungen Bach. Für die Bachforschung war das eine Sensation, denn bisher schien es, als habe im Alter von 18 Jahren ein Genie ohne Vorgeschichte die Menschen in Staunen versetzte.

Glauben konnte dies keiner, doch Beweise für die Begabung des Kindes Bach gab es nicht. Manche hielten ihn gar für einen Spätzünder. Seit dem Notenfund von Weimar muss Bach als Wunderkind gelten. Die jetzt entdeckte Choralphantasie leistet einen weiteren Beitrag, die frühen Jahre des Thomaskantors zu erhellen, meint Peter Wollny: „Jede Komposition aus dieser Zeit ist ein riesiger Gewinn. Die Entdeckungen der vergangenen Jahre haben uns ein neues Bild von Bach vermittelt.“ got

Apr 2008 | Allgemein | Kommentieren