Neuer Landtag, altes Kabinett – Hessens Koch kann nicht, wie er will – die Verhältnisse in Wiesbaden lassen nicht so leicht erkennen, wer Verlierer der Landtagswahlen ist und wer gewonnen hat: Roland Koch darf trotz klarer Verluste seiner CDU vorerst Ministerpräsident bleiben. Die SPD hatte kurz vor Zieleinlauf schon die Arme oben, ließ sich die Mehrheit dann aber noch von der Genossin Dagmar Metzger vermasseln. Jene ist seither bei den Sozialdemokraten unten durch, darf sich aber bei der Konstituierung des Landtags an diesem Samstag noch einmal im Triumph ihres Gratismutes sonnen und fühlt sich – bei all dem Beifall für ihr bundesweit bekanntes Gewissen – mindestens als moralische Siegerin.
Zur Heiligen des Parlamentarismus taugt die Sozialdemokratin mit der Turmfrisur freilich nicht. In der Theorie mag ein nur sich selbst und seinen Wählern verantwortlicher Volksvertreter einen Platz haben – in der Realität gibt es ihn nicht. Selbst unter Autoren des Grundgesetzes war das bekannt: Im Parlamentarischen Rat hielt mancher das freie Mandat für unsachgemäß, weil es die real existierende Macht der Fraktionen über den Abgeordneten ausblendet. Andere meinten dagegen, gerade deshalb müsse ein entsprechender Passus ins Grundgesetz, um die Druckmittel der Parteien zu begrenzen.
Jeder weiß, dass es anders läuft. Die Meinungsbildung findet nicht im Parlament statt, sondern in den Fraktionen. Von dieser Regel wird manchmal abgewichen: Wenn zum Beispiel in der kommenden Woche die Abstimmung über den Umgang mit Stammzellen im Bundestag aufgerufen wird, brauchen die Abgeordneten nicht auf ihr Parteibuch zu schauen. Aber nur ausnahmsweise.
Wie es sonst zugeht, hat einmal der SPD-Abgeordnete Marc Bülow beschrieben: „Die politische Linie zu beeinflussen, ist für Abgeordnete sehr schwierig. Wer häufig gegen die Mehrheit stimmt, ist bei der Fraktionsspitze schnell unten durch und wird irgendwann nicht mehr ernstgenommen. Vor wichtigen Entscheidungen werden Abweichler unter Druck gesetzt und zum Beispiel zu Einzelgesprächen ins Büro von Peter Struck, unserem Fraktionsvorsitzenden, zitiert.“
Eben jener Struck gehörte zu den SPD-Granden, die sich zwar äußerst lobend über die „Gewissensentscheidung“ von Frau Metzger ausbreiteten, von denen aber nicht in Erinnerung ist, dass sie gegen die Basta-Politik ihres früheren Kanzlers Gerhard Schröder opponiert hätten. Der wusste Parteifreunde notfalls mit Rücktrittsdrohungen zu disziplinieren. Das Lob des „freien Mandats“ hat bei der SPD nicht immer Hochkonjunktur.
Andrea Ypsilanti ist gar nicht so weit gekommen, eine Demission als Druckmittel ins Spiel zu bringen. Roland Koch wird erst einmal die Kabinettsgeschäfte in Wiesbaden weiterführen. Die „hessischen Verhältnisse“ gelten der SPD nicht als parlamentarischer Betriebsunfall, sondern werden als Chance schöngeredet. Oft war schon ein Politikwechsel versprochen, doch es wurde nur ein Regierungswechsel. Nun, meint Ypsilanti, sei Letzteres zwar unerreichbar, aber das andere immer noch möglich. Parlamentsmehrheit gegen Minderheitskabinett, heißt die rot-grün-rote Schlachtordnung.
Die SPD hat angekündigt, sich für Forderungen aus ihrem Wahlprogramm Mehrheiten zu suchen. Die Grünen und die Linkspartei werden ihre Stimmen einer Abschaffung von Studiengebühren ebenso wenig verweigern wie der Rückkehr in die Tarifgemeinschaft der Länder, um nur zwei Beispiele zu nennen. Koch hat sogar versprochen, „loyaler Partner des Parlaments“ zu sein.
Aber was heißt das schon? Die Juristen werden darüber streiten, was mit dem Begriff „Fortführung der laufenden Geschäfte“ gemeint ist. Verhindern kann Koch missliebige Gesetze zwar nicht, wohl aber verzögern und als Ministerpräsident wegen verfassungsmäßiger Zweifel notfalls blockieren. Von haushaltspolitischen Fragen ganz zu schweigen.
Parlamentarische Vorlagen werden im koalitionslosen Landtag außerdem schnell zur Handelsmasse für Bündnisbildungen aus dem Interregnum heraus: Tragt ihr dieses mit, machen wir bei jenem Zugeständnisse. Der nach einem brutalstmöglichen Wahlkampf geläuterte Koch hat dabei die besseren Chancen: Eher lockt der CDU-Hardliner die Grünen nach Jamaika, als dass es der SPD-Trümmerfrau Ypsilanti noch gelingt, die FDP für sich zu erwärmen. Das rot-grüne Modell mit linker Tolerierung ist nur noch eine Farce, seit Kurt „Tabu“ Beck die Variante – mal wieder – ausgeschlossen hat.
Bewegt sich beim Wiesbadener Polit-Schach nichts, wird die CDU bald auf jene Lösung setzen, die die SPD am meisten fürchtet: Neuwahlen. Die CDU dürfte dann wohl ohne Roland Koch antreten, während Andrea Ypsilanti mit einer Niederlage rechnen müsste. Und Dagmar Metzger? Die bekommt es bestimmt wieder mit ihrem Gewissen zu tun. Aber dafür interessiert sich dann wohl keiner mehr. gt