Einst zogen Derwische über dieses Land, lebten Toleranz, Demut und Genügsamkeit vor. Manche von ihren waren begnadete Poeten. So sind von ihnen Verse und Lehrsätze überliefert, die noch heute durch lakonische Schönheit und ungeschönte Diktion wirken. „Wem gehört dieses Land? Dieses Hab und Gut?“ fragte einer von ihnen rhetorisch, wissend um die Vergänglichkeit menschlichen Besitzanspruches. Die Derwische Anatoliens kehrten jeglicher Feindschaft den Rücken und entwickelten fern ab von den Zentren der Renaissance in Europa einen anatolischen Humanismus, dessen Grundlage Achtung und Respekt vor jedem Geschöpf war. Heute, so scheint es, sind sie und somit auch ihre Lehren vergessen.
In Anatolien lebten bis vor ein hundert Jahren Muslime, Christen und Juden weitgehend friedlich zusammen. Dieser Friede war in Zeiten, als Völker anderswo einander abschlachteten, kein Gottesgeschenk. Sie war Glaubenssache. Es mag heute, wo, vor allem im muslimischen Namen so viel Gewalt ausgeübt wird, schwer fallen, daran zu erinnern. Aber Religion, in diesem Fall der Islam, kann auch Frieden spenden, kann auch erziehen, bilden, ästhetische Qualitäten und Reize schaffen. Von alledem ist heute nichts mehr übrig. Unduldsamkeit, Gewalt und Haß sind die Alltagsgefühle der islamischen Welt. Eine Tragödie mit weit reichenden Folgen.
Die Türken, jedenfalls in ihrer überwiegenden Mehrheit, würden sich so gern davon absetzen. Sie würden so gern anders sein als der Iran mit seinem wahnhaften Präsidenten, als die arabischen Länder mit ihren despotischen Herrschern und fanatisierten Massen. Aber es scheint, als wüßten sie nicht, wie das geht. Vor mehr als achtzig Jahren wurde die Republik ausgerufen. Es folgte ein autoritäres Regime, das glaubte, Menschen aufklären und umerziehen zu können. Die Religion wurde zur Privatsache erklärt und tauchte für einige Zeit unter. Religion war abgeschrieben. Der Islam der Massen aber blieb, es war ein Islam, der sich immer mehr vom Glauben der Derwische entfernt hatte. Zaghafte Versuche, einen anatolischen Humanismus zu begründen, sind fehlgeschlagen, auch deshalb, weil die aufgeklärte säkulare Republik sich weigerte, jene Tragödien kritisch aufzuarbeiten, die sich im zerfallenden Osmanischen Reich ereigneten.
Der Anspruch der Türken, ein Teil Europas zu sein, in einem mehrheitlich muslimischen Land eine Demokratie, einen funktionierenden Rechtsstaat, eine offene Gesellschaft aufbauen zu wollen, bleibt. Und die Religion, das wünschen sich die Mehrheit der Türken, soll Privatsache bleiben. Doch diese Privatsache wird in der Türkei von Staatsbeamten verwaltet, die wenig dafür leisten, den Glauben mit der Zeit und ihren vielfältigen Herausforderungen zu konfrontieren. Die Anstalt für Religion strahlt etwa so viel Vorbildfunktion aus wie das Baurechtsamt. Ihre Mitarbeiter sind lediglich Verwalter und Hüter des Rituals, die meisten von ihnen ohne geistige Führungskapazität, fern von Inspiration und noch ferner von jeder Art von kritischem Denken.
Längst hat in der Türkei der Nationalismus jene emotionale Leere besetzt, die die Religion hinterlassen hat. Hie und da bildet er auch eine Allianz mit den kruden Resten eines Glaubens, der vor allem eins ist: fremdenfeindlich, menschenverachtend. Das ist der Ungeist, aus dem die entsetzlichen Verbrechen gegen Andersgläubige begangen werden. Mögen die Taten von Einzeltätern oder kleinen radikalen Gruppen begangen werden: Sie werden von einer Stimmung genährt und gestützt, die Breitenwirkung besitzt, einer Pogromstimmung, einer Folge verdrängter Schuld – eine moralische Katastrophe.
Gerade hat die türkische Regierung einen Fahrplan für die Reformvorhaben der nächsten Jahre vorgelegt. Unabhängig vom Fortgang der Beitrittsverhandlungen sollen die Reformen fortgesetzt werden. Was sich da nicht alles findet: von Verkehrssicherheit bis zu einer grundlegenden Reformierung der Justiz – alles löblich und sicher gut für die Modernisierung der türkischen Gesellschaft, für ein Land, das wirtschaftlich boomt und inzwischen zu einem Global Player auf den Weltmärkten geworden ist. Es ist zu begrüßen, daß die Regierung am Europakurs der Türkei festhält, auch wenn in Europa alles andere als Türkeieuphorie herrscht. Die Türkei möchte sich verändern, verbessern, nicht um Europa zu gefallen, sondern im eigenen Interesse.
Wie aber reformiert man Bildung, Kultur und Geist? Und noch wichtiger, wie kann man einem Glauben wieder eine humane Seele geben, der bestenfalls nur noch Ritual und schlimmstenfalls auf Tötung programmierte Kampfmaschine ist? Wie kümmert man sich um Jugendliche, die eine Desperadomentalität entwickeln, im Westen nur Feinde und im Osten nur Opfer sehen? Sind es nicht auch die einseitigen türkischen Geschichtsdarstellungen, die die jungen Menschen dazu bringen, nur in Freund-Feind-Schemata zu denken?
Es erfordert keine besondere Anstrengung, in Konferenzsälen zum Frieden zwischen den Kulturen aufzurufen. Wenn aber die Bewährungsprobe im Alltag scheitert, wird man unglaubwürdig. Die Behauptung Religion und Terror seien nicht vereinbar, ist schlicht und einfach falsch, wird schon von der Religionsgeschichte widerlegt. Sie blockiert auch eine längst überfällige kritische Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten und verdrängt auch die Frage nach dem Sinn des Glaubens, wenn die Achtung vor menschlichem Leben darin keinen Stellenwert mehr hat.
Eine Türkei, die sich zivilisieren möchte – und um nichts anderes geht es beim Prozeß der Europäisierung -, wird es nicht vermeiden können, eine ganz andere Erziehung ihrer Bürger anzustreben, als sie diese bisweilen betrieb. Viele Helden werden Risse bekommen, und mancher Vater, der mythisch aufgeblasen und erhöht worden ist, schrumpft zur akzeptablen realistischen Größe. Daß dabei viele Wunden, die auch mit einer verfehlten Politik europäischer Länder gegenüber der Türkei, in von Europa aus geführten und längst vergessenen Kriegen und Verteilungskämpfen offen gelegt werden, ist unvermeidlich. Es gibt zu dieser schmerzlichen Berührung keine Alternative, weil man sich nicht aus dem Weg gehen kann. Einen aufrichtigen Dialog kann es eben nur geben, wenn ein offenes Gespräch über gegenseitige Verletzungen zugelassen ist.
Jürgen Gottschling
30.Apr.2008, 12:04
„Eine Türkei, die sich zivilisieren möchte – und um nichts anderes geht es beim Prozeß der Europäisierung -“ das ist die bräsige europäische Selbstgefälligkeit und Selbstüberhebung, die in der Geschichte ebenfalls nicht wenig Schaden angerichtet hat. Entspricht nicht dem üblichen hohen Niveau Tenno’scher Betrachtungen.
Entspricht auch nicht der journalistischen Rolle (Aufklärer, nicht mäßig in der Tiefe informierter Besserwisser), die Du in Deinem aktuellen Essay zu Recht propagierst.
Kleine Fußnote…auch in Deutschland wird Religion – offiziell Privatsache – von Staatsbeamten (mit)verwaltet: bei Kirchensteuer, Ethikkommissionen, Religionsunterricht, etc.
01.Sep.2009, 09:33
[…] Pogromstimmung gegen alles Fremde […]