Die Buchreligionen – Judentum, Christentum und Islam sind Offenbarungsreligionen mit einer Ausrichtung auf die Hoffnungen der Vollendung des Einzelnen und der gesamten Schöpfung, also die Hoffnung auf das Reich Gottes; sie haben eine sehr klare Vorstellung vom Zweck der Religion. Diese wird als menschliche Praxis wahrgenommen, welche die Wahrheiten der göttlichen Offenbarung verbreitet und den Gläubigen dabei hilft, ihr Verhalten mit Gottes Gesetz in Übereinstimmung zu bringen. Aus dieser Sicht ist jede Religion zunächst einmal daran zu messen, ob die Offenbarung, auf die sie sich beruft, wahr ist – nicht relativ, sondern absolut und ausschließlich wahr. An zweiter Stelle wird geprüft, ob die Praxis dieser Religion die Gläubigen tatsächlich zu einem gottgeweihten und gottgefälligen Leben führt. Christen, Juden und Muslime werden – ja können – untereinander nie darüber einig sein, welches die wahre Offenbarung ist. Hinsichtlich der Lebenspraxis ist man sich sogar innerhalb der Glaubensgemeinschaften uneins, wie diese am besten mit der Religion in Einklang zu bringen wäre.

Primat des Friedens

Strenggenommen würde keine der Buchreligionen in erster Linie der Politik Augenmerk schenken, wenn es um die Beurteilung der «Güte» eines Glaubens geht. Von dieser traditionellen Auffassung haben wir uns in der westlichen Moderne mittlerweile jedoch weit entfernt: Die erste Frage, die man heute an eine Religion stellt, ist nicht, ob sie wahr oder falsch sei, sondern ob sie möglicherweise den Frieden bedrohe. Frieden ist das moderne sine qua non. Nach den Konfessionskriegen der europäischen Frühmoderne, nach Jahrhunderten religiöser Intoleranz und des Massenmords, der von religiösem Haß motiviert war, gilt unsere erste Sorge einer potentiellen Bedrohung unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung. Wenn es denn eine gute Religion gäbe, dann – so meinen wir – müßte diese am ehesten eine Art moderner Zivilreligion sein.

Doch im Innersten sind die drei «abrahamitischen» Glaubensrichtungen nicht zivilreligiös. Zwar waren sie zeit ihres Bestehens mit dem politischen Leben verflochten, doch keine von ihnen betrachtet den Menschen in erster Linie als zoon politikon. Der Mensch, so lehrt die Bibel, ist auf die Politik angewiesen, weil er ein gefallenes Geschöpf ist; und der erste Städtegründer war der Mörder Kain. Politische Wesen sind wir einzig, weil wir Mängelwesen sind – also unserer Laster, nicht unserer Tugend wegen. Und darum hat es aus dieser Sicht keinen Sinn, den Maßstab der Politik an die Religion zu legen. Im Gegenteil: Der Glaube scheint das einzig verläßliche Richtmaß für unsere politischen Arrangements und Werte. Sogar Frieden ist nur gut, wenn er zu einer frommen und gottgefälligen Lebensführung beiträgt; er ist kein Selbstzweck.

Ein solches Bild der Buchreligionen wird vielen modernen Gläubigen rückständig erscheinen; sie werden auf die aufklärerischen und modernisierenden Strömungen hinweisen, die unsere religiösen Traditionen im Lauf der vergangenen Jahrhunderte beeinflußt haben. Und ein Fortschritt im politischen Sinn fand tatsächlich statt. Vom 16. Jahrhundert an begann der Protestantismus, den christlichen Glauben vom irrationalen Wunderglauben zu befreien, die biblischen Texte kritisch zu überprüfen und sie in Bezug zu den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft zu setzen; der Glaube wurde im Licht neuer Wertvorstellungen wie Individualismus, Gewissen und soziale Gerechtigkeit interpretiert. Im 19. Jahrhundert hatte sich dieser Kulturprotestantismus über weite Teile von Kontinentaleuropa, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ausgebreitet und eine ähnliche Reformbewegung im europäischen Judentum inspiriert. Die römisch- katholische Kirche widersetzte sich dieser Liberalisierungstendenz zwar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil beugte sie sich ihrer Übermacht. Einzig im Islam konnten sich die reformerischen Strömungen bis heute nicht durchsetzen.

Gegenströmungen

Das ist eine (von Letzterem abgesehen) befriedigende, für viele auch beruhigende Entwicklung – aber es ist nicht die ganze Geschichte. Auch orthodoxe protestantische, jüdische und katholische Denker stellten sich diesem Prozeß entgegen und behaupteten, daß der Glaube dabei zu einer Spielart des modernen Humanismus transformiert werde – daß es nur noch um den Menschen gehe und nicht mehr um Gott – und daß ein solches Glaubensverständnis dem Geist der Heiligen Schrift fremd sei. Dies waren nicht die einzigen Kritiker. Nach dem Ersten Weltkrieg stellten sich vorausschauende Theologen wie der Schweizer Karl Barth und Philosophen wie Franz Rosenzweig an die Spitze einer Gegenbewegung zum liberalen Christen- und Judentum; der moderne religiöse Liberalismus erschien ihnen als Verrat an der Botschaft der Bibel. Statt das Handeln des modernen Menschen und des modernen Staats einem moralischen Urteil zu unterwerfen, war – aus ihrer Sicht – die liberale Religion zur Apologetin der neuen Ordnung geworden: Sie heilige die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus, die Massenschlächterei des Ersten Weltkriegs und den obszönen Triumph von Faschismus und Kommunismus.

Es lohnt sich, dieser Diagnose moderner Befindlichkeit aus der Zeit der Weimarer Republik heute erneut Beachtung zu schenken. Sie identifizierte zwei reale Phänomene im Europa des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts: die Transformation der biblischen Religion in einen frommen Humanismus und den Kollaps der bürgerlichen Zivilisation. Die Wirkungsmacht dieser Gedanken trug dazu bei, einen neuen religiösen und politischen Messianismus zu inspirieren. Einige von ihnen wandten sich dem Nationalsozialismus, andere dem Stalinismus zu; gemeinsam war ihnen dabei die Feindschaft gegenüber dem bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts in seinen religiösen und politischen Ausprägungen.
Im Westen starb diese Art von politischem Messianismus nach dem Zweiten Weltkrieg aus, obwohl manche in der radikalen Linken der sechziger und siebziger Jahre seine säkularen Erben sehen mögen. Anderswo in der Welt aber floriert er – wie wir nur allzu gut wissen. Und wie zur Zeit der Weimarer Republik geht es nicht um die Frage, was eine gute oder schlechte Religion ausmacht, sondern darum, wozu eigentlich eine Religion wirklich gut ist. Aus freiheitlicher Sicht ist heute diejenige Religion gut, die den Frieden zu wahren hilft und die anständige, moralisch denkende Bürger einer modernen demokratischen Staatsordnung hervorbringt. Aus Sicht des zeitgenössischen Antiliberalismus definiert sich eine gute Religion dadurch, daß ihr eine wahre Offenbarung zugrunde liegt und daß sie ihre Anhänger dazu anleitet, nach Gottes Willen zu leben. Deshalb sind aus dieser Sicht die modernen, liberalen Gesellschaften verwerflich.

Gottes Maß und Menschenmaß

Obwohl der politische Diskurs in der islamischen Welt heute fast ausschließlich einen illiberalen Standpunkt erkennen läßt, war diese Haltung nie ausschließlich auf den Islam beschränkt. Wann immer gläubige Juden oder Christen sich die Frage stellen, ob eine bestimmte Gesellschaftsordnung gut wäre, müssen sie dies auch anhand der Frage tun, ob sie dem wahren Glauben und dem gottgefälligen Leben förderlich oder hinderlich sei. Sie sind wie die Muslime gehalten, einen göttlichen, nicht einen menschlichen Maßstab anzulegen. Das heißt nicht, daß der Glaube der «abrahamitischen» Religionen notwendigerweise die freiheitliche Demokratie verwerfen müsse; aber für Gläubige liegt der Schluß nur allzu nahe, daß die liberale Gesellschaft nur Gleichgültigkeit gegenüber der Offenbarung und nicht die ernsthafte Suche nach Gott begünstige; daß sie das spirituelle Leben ersticke und eher dem Laster als der Tugend Vorschub leiste. Und aufgrund eines solchen Urteils muß der Liberalismus zwangsläufig abgelehnt werden.
Einer der zahlreichen Mythen, die der religiöse Liberalismus über die Jahrhunderte hinweg gepflegt hat, ist die Behauptung, daß Dialog und gegenseitiger Respekt zwischen den Glaubensgemeinschaften stets möglich seien. Das mag für liberale Gruppierungen zutreffen, aber es ist nachweislich falsch im Blick auf orthodoxe Traditionen, die dem spirituellen Schicksal des Menschen mehr Bedeutung beimessen als seinem irdischen Dasein.

Im heutigen Konflikt zwischen religiöser Orthodoxie, fundamentalistischem Islam und modernem Liberalismus geht es zu guter Letzt nicht um Werte wie Frieden oder Toleranz; hingegen geht um die Frage, ob die Religion die Dienerin einer guten Politik sein soll oder kann, oder ob die Politik lediglich Werkzeug im Dienst einer – so es sie denn gebe – wahren Religion sei. Diejenigen, die an den Primat der Offenbarung glauben, stehen am einen Ufer und fragen sich, wie sie ihre Politik mit dem göttlichen Willen in Einklang bringen können. Die anderen, die jenen Glauben nicht teilen, befassen sich mit der Frage, ob die Religion zum Frieden und zur Bereicherung des modernen Lebens beitragen könnte.

Eine Brücke dazwischen gibt nicht. Aber einen reißenden Fluß.

Jürgen Gottschling 

Feb 2008 | Allgemein | 1 Kommentar