Die 1946 geborene Hanan Ashrawi verbindet ihre Tätigkeit als Literaturwissenschafterin mit politischem Engagement; unter anderm wirkte sie im palästinensischen Legislativrat und im Erziehungsministerium. Derzeit hat sie die Mercator-Professur an der Universität Duisburg-Essen inne; im Gespräch:
Im Westen hegt man den Verdacht, die Hamas habe den Notstand im Gazastreifen für ihre politischen Zwecke ausgenutzt, die Lage zusätzlich künstlich dramatisiert, um die Politik Israels weltweit zu diskreditieren.
Hanan Ashrawi: Als die Löcher in die Grenze zu Ägypten gesprengt wurden, erhielt die Hamas natürlich weitere Unterstützung. Insofern kann die Hamas diese Entwicklung tatsächlich als Erfolg verbuchen. Aber man darf nicht vergessen, dass alles, was zu den Ereignissen der letzten Wochen führte, sehr konkrete Ursachen hat. Seit Jahren fühlen sich die Menschen im Gazastreifen ungeschützt und verwundbar, sie sind traumatisiert. Viele Kinder leiden an Stress-Syndromen, sie sind Bettnässer, sie stottern und leiden an Albträumen. Seit langem haben die Menschen den Eindruck, dass es seitens der internationalen Gemeinschaft keinen Willen gebe, zu ihren Gunsten einzuschreiten. Das lässt den Extremismus gedeihen. Man kann Menschen nicht einsperren, aushungern und dann von ihnen verlangen, sie sollten sich anständig benehmen. Die Hamas mag von den jüngsten Ereignissen propagandistisch profitiert haben. Aber die Öffnung der Grenze hatte weit darüber hinausreichende Ursachen.
Wahl mit Vorbehalten
Wie weit geht das Einverständnis der Palästinenser mit der Hamas? Inwiefern identifizieren sie sich ideologisch mit der Organisation?
Die Hamas wurde ja nicht nur von dezidiert religiösen Muslimen gewählt. Auch Christen stimmten für sie, selbst Marxisten. Sie alle haben die Partei aber nicht aufgrund religiöser Überzeugungen gewählt, sondern weil sie den Wechsel wollten, das Ende von Korruption und Machtmissbrauch. Und so gehen viele Palästinenser bis heute ideologisch auf Distanz zur Hamas. Sie halten ausgesprochen wenig von Zensur, Gedankenkontrolle, von Publikationsverboten und der Schliessung von Internet-Cafés. Sie bestehen weiterhin auf den Grund- und Freiheitsrechten, die in der Verfassung ja auch festgeschrieben sind. Daran hat auch die bedrückende Situation der letzten Monate nichts geändert. So hat es gegen die Militanz der Hamas sehr scharfe Reaktionen gegeben. Die Organisation büsste ja auch sehr viel Sympathie und Unterstützung ein. Inzwischen sieht man, dass sie nicht dazu beiträgt, ein demokratisches System zu schaffen.
Hat die Hamas auf diese Ablehnungstendenzen reagiert? Hat sie sich gemässigt? Wie präsentiert sie sich derzeit in ideologischer Hinsicht?
Direkten religiösen Zwang übt die Hamas nicht aus. Keiner ihrer Vertreter macht den Menschen in dieser Hinsicht Vorschriften. Dennoch nimmt die Religion immer konservativere Züge an. Dies geschieht allerdings nicht durch äusseren Druck, sondern durch subtile Ausgrenzungsmechanismen: Wer den Glauben nicht teilt, dem gibt man zu verstehen, dass er nicht mehr dazugehört. Das hat gerade für Frauen Konsequenzen: Viele – aber längst nicht alle – tragen wieder den Schleier, nachdem sie sich zuvor um religiöse Fragen nicht allzu sehr gekümmert haben. So entscheidet sich für uns Frauen an der Religion eine zentrale Frage: Bist du frei, selbst zu entscheiden, ob du den Schleier tragen oder ablegen willst – oder bist du es nicht? Diese Frage ist für uns der Gradmesser unserer Freiheit. Gleichzeitig ist die Religion natürlich auch eine Art Zuflucht für die Palästinenser: Je verzweifelter und hoffnungsloser sie sich fühlen, desto stärker wenden sie sich ihr zu. Aber das gilt im Grunde für alle Menschen dieser Welt. Bei uns hat das natürlich auch mit dem Scheitern der säkularen Politik zu tun.
Die Machtelite versagt, worauf gründet deren Scheitern denn?
Im Grunde ist dies ein in vielen arabischen Ländern zu beobachtendes Phänomen. Die säkularen Regime bereiteten sich ihre Niederlage vor allem selbst. Ganz wesentlich ist sie in Korruption und Machtmissbrauch begründet. Viele arabische Regierungen gewöhnten sich an, Missstände im eigenen Land mit der Existenz Israels zu entschuldigen. Wir werden bedroht, argumentierten sie, und darum brauchen wir Waffen. Mit dieser Entschuldigung traten sie der Entwicklung von Demokratie und Transparenz systematisch entgegen. Dazu kam ihre Unfähigkeit, Israel entweder militärisch zu besiegen oder Frieden mit ihm zu schliessen. So enthielten diese Regime ihren Bürgern beides vor: Frieden und Demokratie. Deshalb schauten sich die Menschen nach Alternativen um – und zwar nach demokratischen Alternativen. Sie wollten etwas anderes als bloss die Wahl zwischen einer korrupten weltlichen und einer islamistischen Regierung. Anders aber als zu Zeiten etwa der iranischen Revolution liegt die Bedrohung etablierter Regime durch die Islamisten heute nicht mehr in der Waffengewalt. Sie erfolgt vielmehr über den Wahlzettel. Eben darum war es für die Hamas so wichtig, in Palästina Erfolg zu haben. Denn es war das erste Mal, dass eine muslimische Organisation durch Wahlen an die Macht kam. Und dort wollte sie um jeden Preis bleiben.
Kein religiöser Konflikt
Das macht die Verhandlungen noch schwieriger. Denn seit der Wahl der Hamas scheint der israelisch-palästinensische Konflikt ja auch eine religiöse Dimension angenommen zu haben.
Man geht in die Irre, wenn man den israelisch-palästinensischen Konflikt für einen religiösen hält. Er ist keiner, und alle, die ihn als solchen beschreiben, verhindern bewusst oder unbewusst seine Lösung. Wenn man Religion ins Spiel bringt, wenn mein Gott gegen deinen steht – dann kann es keine Lösung geben. Wenn es sich hingegen um eine politische Auseinandersetzung handelt, kann man sich sehr wohl einigen. Gerade die palästinensische Geschichte zeigt, wie wenig es sich beim israelisch-palästinensischen Konflikt um eine religiöse Angelegenheit handelt. Die Palästinenser setzten sich ursprünglich ja aus Christen, Juden und Muslimen zusammen. Und es ist nicht so, als wären wir eines schönen Morgens aufgewacht und hätten gesagt, ab jetzt mögen wir keine Juden mehr. Die Palästinenser waren immer eine der offensten, tolerantesten und pluralistischsten Gesellschaften der arabischen Welt. Und nun, mit einem Mal, gelten wir als die merkwürdigen Anderen, die Fremden, die Aliens.
Wenn sie für politische Zwecke missbraucht wird, wird Religion sehr zerstörerisch – und zwar ganz gleich, ob man nun einer christlichen Liga in den USA angehört, einer fundamentalistischen muslimischen Bewegung oder einer jüdischen Siedlergruppe, die denkt, Gott habe ihr dieses Land gegeben und sie könne, um es zu behalten, andere Menschen töten. Nein, der Konflikt ist ein weltlicher, und mit weltlichen Mitteln muss er gelöst werden.