Lange Zeit war ich insgeheim stolz darauf, keine Leichen im Keller zu haben. Wie langweilig! Denn dann hatte ich auf einmal drei davon. Ich war wer! Vorgestern kam mir eine davon abhanden, und ich bin jetzt doch ein wenig traurig ob des Verlustes. Wer früher starb, war nicht nur länger tot, er konnte sich auch sicher sein, dass seine Überreste, und was er an Gedanken, Gegenständen, Beziehungen besaß, langsam dem Verfall oder dem Vergehen überlassen bliebe. Welch ein beruhigender Gedanke, dass eines Tages nicht nur der eigene Leib, sondern die bloße Erinnerung, existiert zu haben, aufhört zu existieren. Es machte dann keinen Unterschied mehr, ob man je gelebt hatte. Die Entsorgung war anstrengungs- und rückstandslos.
H. habe ich eigentlich kaum gekannt. Wir haben ein paar Male Mails gewechselt, und ich habe mal an einen Vortrag an einem Symposium gehalten, das er organisiert hatte. Ein munterer Typ, etwas jünger, als ich. Seitdem gab es jährlich eine nette Mail zum Jahreswechsel. Beim Abgleich meines Adressbuchs mit Xing ward er gefunden und verknüpft. Irgendwann stand auf einer Webseite, er sei nach schwerer Krankheit verstorben.
Immer noch scheinen viele Menschen nichts mehr zu fürchten, als vergessen zu werden. Sie setzen deswegen alles daran, sich ein Denkmal zu setzen. Doch jetzt kommt es für sie besser, denn wir treten noch im Tode ins Internetzeitalter ein. Als Susanne Berkenheger kürzlich die Accountleichenbewegung gründete, dachte ich noch, das hätte mit mir nichts zu tun. Weit gefehlt.
J. traf ich in einem Gremium. Er war sieben Jahre älter als ich, ein milde gestimmter Veteran, und ich der Neuling. Irgendwann hörte er auf, zu Sitzungen zu kommen, und entschuldigte sich von Mal zu Mal. Danach kamen weitergeleitete Grüsse von seinem Sohn, mit der Bitte, für ihn zu beten. Irgendwann ein letztes Mail, die große Hoffnung auf die nächste Chemotherapie. Vierzehn Tage später war es für ihn aus. Er wurde mit gewissem Aplomb beerdigt, und uns allen blieb nur sein Eintrag auf LinkedIn
Sie alle blieben im Social Network. Ganz klar, wer sollte sie auch löschen? Die Angehörigen wissen vielleicht nichts von ihrem Zweitleben, oder sie kommen nicht an die Login-Daten. So bleibt der Verstorbene in Bild, Schrift und vielleicht in Ton erhalten.
U. war ein Kollege, ein netter, Kerl, ein paar Jahre älter als ich, auch wenn sein langweiliges Auto ihn älter machte, als er war; wir haben vier oder fünf Jahre auf die Entfernung – virtuell – zusammen gearbeitet, bis ich für diesen Sender nicht mehr arbeitete, er blieb erst einmal. Der Kontakt schlief ein, es blieb ein Link auf Xing. Irgendwann hörte ich von einem gemeinsamen Bekannten, dass er einen Schlaganfall erlitten habe, von dem er sich nicht mehr erholen wird. Sein Körper war ihm zum Grab geworden.
Auch ich werde irgendwann eine Accountleiche sein Dann bleiben von mir viele, viele Profile übrig, die niemand löschen wird. Ich suche noch nach einem guten Wort dafür. „Vorratsdatenspeicherung“ ist ja schon vergeben, auch wenn es gut passen würde. Wie wäre „Nachhaltigkeitsaufbewahrung“? Oder, griffiger, The Final Cut? Ich weiß: „Schlafendes Sozialkapital“.
Verdächtigt werden ja nur die Provider:
Aber, welche Online-Community ist frei davon? Youtube, Häuslebauerforum, Flickr, Facebook, bahn.de, secret city, mySpace, Xing, David Hasselhoff Fanclub, Yahoo …, sie alle wollen die schnelle Mark machen, auf dem Rücken der Dahingegangenen.
Aber es ist viel schlimmer als nur das: Mein soziales Netzwerk, inzwischen auf geschätzte einige hundert Menschen auf verschiedenen Plattformen angewachsen, ist ja nur so gut, wie die Anzahl seiner Mitglieder. Ohne die bin ich ein Niemand, denn nur wer beliebt ist, ist beliebt. Soziales Kapital verzinst sich, auch wenn es nur geborgt ist. Es geht um jeden Link:
„I lost 6,456 of my best friends in an instant,“ said Minneapolis resident Peter Steinberg, 20, who has loyally befriended as many profiles as possible over the past two years. „Nothing can describe how devastated I feel. Some of these people I’ve exchanged two, even three comments with, and I can’t tell you how many ROTFLMAOs we’ve shared, too.“
Ich glaube, ich lege ein Wiki über mich an. Darin möge jeder nach meinem Tod über mich schreiben, was er will. Ich hoffe auf häufige Updates, damit ich nicht so statisch bin, und täglich neue Besucher anziehe. Mit Bannerwerbung wird sich das schon tragen. Außer der Kirche darf jeder inserieren. So werde ich zu gemäßer Zeit statt einer Accountleiche eine Romanfigur sein. Welch ein Fortschritt!
PS. Sie denken jetzt wahrscheinlich, dass uns schon bald niemand mehr abhanden kommt. H. aber doch. Sie haben ihn letztens gelöscht, vielleicht hat er – seit der Tod ihn ereilt hat – seinen Premiumbeitrag nicht mehr bezahlt. Das ist dann, alles in allem, doch traurig.