Die Armeeführung scheut einen erneuten Einmarsch im Gaza-Streifen
Das berühmteste Wort, das jemals im Gazastreifen gesprochen wurde, waren die letzten Worte von Samson: „Ich will mit den Philistern sterben!“ Nach der biblischen Geschichte umfasste Samson die beiden Mittelsäulen, auf denen der Philistertempel ruhte, stemmte sich gegen sie und ließ das Gebäude zusammenbrechen. „Es fiel auf die Fürsten der Philister, auf alles Volk und ihn selbst“. Der Erzähler der Geschichte fasst zusammen: „So dass es mehr Tote waren, die er durch seinen Tod tötete, als die er zu seinen Lebzeiten getötet hatte.“

Eine Geschichte des Leidens, der Zerstörung und des Todes. Sie könnte sich jetzt wiederholen, nur mit umgekehrten Vorzeichen: der Tempel könnte von den Palästinensern (die ihren Namen von dem der Philister ableiten) selbst eingerissen werden. Unter den Toten könnten die Fürsten Israels sein.

Wird der Gaza-Streifen zu einem palästinensischen Massada? Zu jenem Ort, an dem tausend Jahre nach Samson die jüdischen Verteidiger lieber den kollektiven Selbstmord gewählt haben sollen, statt in die Hände der Römer zu fallen?

„Gaza – Adieu! Auf Nimmer-Wiedersehen!“ – war die Parole

Die Menschen in Gaza sind beunruhigt, Hamas bereitet sich zum Kampf vor. Auf die israelische Armeeführung trifft beides gleichermaßen zu: Sie ist ebenfalls nervös und stellt sich auf einen Feldzug ein, denn seit Monaten wird von der „großen Operation“ gesprochen – einer massiven Invasion im Gaza-Streifen, um dem Abfeuern von Raketen auf israelische Grenzstädte ein Ende zu setzen. Den Besuch von Präsident Bush wollte man noch abwarten.

Die Armeechefs, die es gewöhnlich drängt, in die Schlacht zu ziehen, drängt es diesmal überhaupt nicht. Der große Schlag soll fast um jeden Preis vermieden werden, aber sie sind fatalistisch und wissen, alles hängt vom Zufall ab. Wenn morgen eine Qassam-Rakete auf ein Haus in Sderot fällt und eine ganze Familie tötet, gäbe es in Israel einen solchen Aufschrei, dass die Regierung den Angriffsbefehl erteilen würde, auch wenn sie es lieber nicht täte.

Seit Monaten hat die Hamas-Führung im Gaza-Streifen Waffen gehortet, die durch unterirdische Tunnel aus Ägypten geschmuggelt werden (genau die gleiche Methode, mit der die Israelis am Vorabend des Krieges von 1948 Waffen ins Land holten). Die Hamas besitzt zwar weder Artillerie noch Panzer, verfügt jedoch mittlerweile über höchst effiziente panzerbrechende Waffen. Nach Schätzungen unserer Militärs könnte ein Einmarsch das Leben Hunderter israelischer Soldaten kosten sowie Tausender palästinensischer Kämpfer und Zivilisten. Panzer und schwere Bulldozer würden vorrücken und für die gleichen schrecklichen Bilder sorgen, wie sie unsere Armee zu vertuschen suchte, als es den weltweiten Aufschrei gegen das Jenin-Massaker während der Operation Schutzschild im Frühjahr 2002 gab.

Keiner weiß, wie sich ein Vorstoß nach Gaza entwickelt. Vielleicht bricht jeder Widerstand schnell zusammen, und all die Prophezeiungen über israelische Opfer erweisen sich als falsch. Es ist freilich möglich, dass die Palästinenser Gaza als ihr Stalingrad empfinden und erbittert verteidigen. Ein solcher Widerstand ließe sich nur brechen, würde unsere Armee ganze Stadtteile zerstören und vor dem großen Massaker nicht zurückschrecken. Aber was dann?

Wenn die Armee bleibt, wird sie gezwungen sein, die ganze Verantwortung eines Besatzungsregimes zu tragen: sie muss die Bevölkerung ernähren, soziale Dienste übernehmen, für Sicherheit sorgen. Und das alles bei einem vermutlich heftigen Guerilla-Krieg, der das Leben der Besatzer genau wie das der Besetzer zur Hölle macht. Erinnern wir uns, die Israelis haben den Gaza-Streifen schon dreimal verlassen. Und jedes Mal war die Freude groß: „Gaza – Adieu! Auf Nimmer-Wiedersehen!“ – das war der populäre Slogan. Als Israel 1977 mit den Ägyptern Frieden schloss, weigerten die sich eisern, Gaza wieder unter ihre Kontrolle zu nehmen. Präsident Sadat wusste, weshalb.

Schließlich wurde auch die Hamas, die gerade ihren 20.Jahrestag feierte, nicht zufällig im Gaza-Streifen geboren.

Kein Wunder, dass unsere Generäle der Gedanke schreckt, ausgerechnet diese Region zurück zu erobern. Es gefällt ihnen gar nicht, die Rolle der „Philisterfürsten“ aus der Geschichte des biblischen Samson zu spielen. Es weiß eben keiner, wie man den Gordischen Knoten aufschnürt, den Ariel Sharon – der Meisterknüpfer solcher Knoten – hinterlassen hat, als er 2005 seinen „Trennungsplan“ durchsetzte, der als eine der größten Torheiten in die Annalen eines Staates eingehen wird, der reich an Narreteien ist.

Man erinnere sich nur: Sharon löste die Siedlungen im Gaza-Streifen auf und verließ das Gebiet ohne jede Übergabe an die palästinensischen Behörden. Er erlaubte den Bewohnern hernach kein normales Leben, sondern verwandelte die Region in ein riesiges Gefängnis. Alle Verbindungen nach draußen wurden gekappt – die israelische Marine schnitt die Seewege ab, die Grenze mit Ägypten wurde blockiert, der Flughafen blieb zerstört, ein Hafenbau wurde verhindert.

Die versprochene „sichere Passage“ zwischen Gaza und der Westbank ist bis heute hermetisch abgeriegelt. Von den Grenzübergängen zog sich kein israelischer Soldat zurück. Es verloren Zehntausende von Arbeitern aus Gaza die Jobs in Israel, womit fast die gesamte Bevölkerung ihren Lebensunterhalt einbüßte. Das nächste Kapitel war unvermeidbar: Die Hamas übernahm im Mai 2007 die Kontrolle des Streifens, ohne dass die hilflosen Politiker in Ramallah etwas dagegen hätten tun können.

Nichts außer Orangen, Erdbeeren, Oliven und Tomaten

So schloss sich der Teufelskreis: die Israelis ziehen den Strick um den Hals der Bevölkerung von Gaza immer enger, die Gaza-Kämpfer beschießen Israel, die Israelis töten zur Vergeltung militante und zivile Palästinenser, im Gegenzug treffen Mörsergranaten die Stadt Sderot und vereinzelte Kibbuzim. Kein Ende in Sicht.

Nach 60 Jahren Besatzung – zunächst durch Ägypten, später Israel – wird dank der Wirtschaftsblockade im Gaza-Streifen fast nichts produziert, außer Orangen, Erdbeeren, Oliven und Tomaten. Prompt sind die Preise in derart schwindelnde Höhe gestiegen, dass es in Gaza-City jetzt teurer ist als in Tel Aviv. Der Schwarzmarkt blüht.

Wie können Menschen unter solchen Verhältnissen existieren? Sie können es, weil Großfamilien einander helfen, Menschen, denen es besser geht, ihre Verwandten unterstützen, die Hamas ein Netzwerk der Solidarität unterhält – die UNWRA* wenigstens die Grundnahrungsmittel herein bringt.

Gibt es außer einer Militärintervention noch einen anderen Weg? Natürlich, aber der erfordert Phantasie, Kühnheit und die Bereitschaft, entgegen der üblichen Muster zu handeln. Es könnte eine sofortige Waffenruhe geben. Nach allen, was man hört, ist Hamas dazu bereit, vorausgesetzt, dass sich beide Seiten daran halten, dass alle Operationen gestoppt werden, inklusive der „gezielten Tötungen“ hier und des Abfeuerns der Qassam-Raketen dort. Darüber hinaus müssten alle Grenzübergänge, die Passage zwischen Gaza und der Westbank und die Verbindungen nach Ägypten geöffnet werden.

Würde es gelingen, dadurch die Lage zu beruhigen, könnten die beiden konkurrierenden palästinensischen Regierungen – die der Fatah in Ramallah und die von Hamas in Gaza-City – ermutigt werden, unter der Schirmherrschaft Ägyptens und Saudi-Arabiens einen Dialog zu beginnen, um den Riss zu heilen und eine vereinte palästinensische Führung zu bilden, die allein in der Lage wäre, einen Friedensvertrag zu unterschreiben.

Anstelle des Schreis „Ich will mit den Philistern sterben!“ sollten wir besser mit Dylan Thomas rufen: „Der Tod soll nicht die Herrschaft bekommen!“

Der Autor Ury Avnery und ich begegneten uns erstmals vor etwa 10 Jahren in Heidelberg zu einem Interview für den Süddeutschen Rundfunk. Um uns aufeinander vorzubereiten hatten wir einiges voneinander gelesen.

Avnery damals: „Ich bin Ihrer Meinung, würde ich die jedoch so in Israel sagen, würde ich gesteinigt“. Seither sind wir freundschaftlich verbunden. Jürgen Gottschling

Biographie: uriavnery.jpg
Zu Beginn des „Dritten Reiches“ besuchte Avnery die Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule (heute Helene-Lange-Schule) in Hannover. Noch 1933 wanderte seine Familie mit ihm nach Palästina aus. „1938 bis 1942 war Uri Avnery Mitglied der jüdischen terroristischen Bewegung Irgun.“ Im Palästinakrieg 1948 wurde er als israelischer Soldat schwer verwundet. Von 1950 bis 1990 war er Herausgeber und Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Haolam Haseh. 1993 begründete Avnery mit Freunden die israelische Friedensinitiative Gush Shalom (Israelischer Friedensblock). Er setzt sich für die Trennung von Staat und Religion und gegen den orthodoxen Einfluss auf das religiöse und politische Leben in Israel ein. Avnery propagiert ein „Israel ohne Zionismus“, um dem Staat die Vergangenheit zu nehmen, die sich aus seiner Sicht erschwerend auf den Friedensprozess auswirkt.
Am 13. September 2003 begab er sich als „Menschlicher Schutzschild“ zum belagerten palästinensischen Präsidentensitz in Ramallah. Mit ihm wollten 30 Friedensaktivisten, zu denen auch die Knesset-Mitglieder Issam Mahoul und Ahamad Tibi sowie der Meretz-Aktivist Latif Dori und der Historiker Teddy Katz gehörten, nach eigener Aussage die „Absichten von Premierminister Sharon durchkreuzen“. Sie versuchten, die von ihnen befürchtete „Ermordung Arafats, ausgeführt von Soldaten unter dem Befehl der israelischen Regierung“, zu verhindern.

Jan. 2008 | Allgemein | Kommentieren