Ein Ministerpräsident, der Anstandsregeln in der Bild-Zeitung veröffentlicht, gibt zu erkennen, dass er anstandslos, nämlich brutalstmöglich um den Machterhalt kämpfen will. Dass Koch sein Wahlkampfsüppchen mit frei flottierenden Ängsten kocht – mit Ängsten vor Jugendkriminalität und Überfremdung -, sollte man ihm nicht weiter übelnehmen. Die Indienstnahme innerer Unsicherheit zu Wahlkampfzwecken ist eine Versuchung, der nicht nur Politiker der Union erliegen. Ärgerlich ist allerdings, dass die so entfachte Kampagne das wirkliche Problem verschärft. Wenn nicht gerade Wahlkampf herrscht, wird schon mal zugegeben, dass alle Parteien bei der Integration von Migranten versagt haben. Jetzt aber gilt es, der politischen Konkurrenz für alles die Schuld zu geben.

Hingegen wäre – was denn sonst? – Aufklärung angesagt, das heißt eine nüchterne Bilanz der Fakten, ein seriöser Umgang mit der Statistik und eine offene Argumentation. Doch sollte man in Betracht ziehen, dass dem rationalen Diskurs in Zeiten des Wahlkampfs Grenzen gesetzt sind. Das Spiel mit der Angst spricht Gefühle an und nicht den Verstand. Wer Angst hat, im Dunkeln auf die Straße zu gehen oder U-Bahn zu fahren, wem bange ist, im Wald spazieren zu gehen oder einen Anhalter mitzunehmen, dem ist mit rationaler Politik kaum zu helfen.

Innere Unsicherheit ist deshalb so diffus, weil sie sich aus allerhand zusammensetzt: Es geht nicht allein um die Furcht vor Kriminalität, sondern um den Verlust des Arbeitsplatzes, die Vergiftung der Umwelt, das Scheitern der Existenz, um Lebensangst schlechthin. Außerdem hat das subjektive Gefühl innerer Sicherheit, wie einschlägige Studien herausgefunden haben, mit der objektiven Sicherheitslage herzlich wenig zu tun: Es kommt vor, dass Leute, die in vergleichsweise sicheren Stadtteilen leben, die größte Angst vor Kriminalität haben.

Die jüngste Forderung nach einem härteren Strafrecht (oder gar die populistische Forderung nach „Erziehungscamp“ mit amerikanischem Vorbild) bedient Vorurteile gegen Fremde. Wie abwegig solche Forderungen sind, hat (im aktuellen Wochenkurier) der Heidelberger Jugendrichter Dr. Dirk Helmken so formuliert: „Die Vorstellung, mit andressierter Disziplin und menschenunwürdigem militärischem Drill eine Dauerwirkung erzielen zu können, ist absurd und auch in den USA inzwischen als gescheitert anerkannt worden.“

Mit solchen Fakten lässt sich schlecht guter Wahlkampf machen. Wer aber vorgibt, nicht für seine Partei, sondern für das Gemeinwohl zu sprechen, muss sich daran messen lassen. Die harte Linie, die Law-and-Order-Politiker gern als Lösung verkaufen, bleibt ein Teil des Problems. Als 1923 das erste Jugendstrafgesetz in Kraft trat, feierten die Reformer einen historischen Durchbruch: Erstmals wurde der Erziehungsgedanke zur offiziellen Leitlinie – jedenfalls für Minderjährige, denen man das bloße Wegsperren ersparen wollte: weil es sowohl für den Gefangenen als auch für die Gesellschaft so überaus schädlich ist.
Gustav Radbruch, Sozialdemokrat und zeitweise Justizminister, erklärte damals, „nicht ein besserer Strafvollzug“ sei notwendig, „sondern etwas, das besser ist als Strafvollzug“. Die Nazis räumten gründlich auf mit solcher „Humanitätsduselei“. Erst in den 1960er Jahren gelang es, die Weimarer Reformen fortzusetzen.

Jetzt ist Parteiübergreifende Vernunft gefordert

Inzwischen hat sich herumgesprochen: Kriminalität ist weder durch drakonische Strafen noch durch gutes Zureden zu beseitigen. Ein Patentrezept gibt es nicht, doch immerhin eine realistische Einsicht: Jede Gesellschaft muss mit Kriminalität, das heißt mit einer gewissen Zahl von Kriminellen auskommen – fragt sich nur wie.

Den großen Entwürfen und Reformdebatten folgte eine teils nicht minder große Ernüchterung. Und, parteiübergreifend, ein Pragmatismus, der darauf verzichtet, den Schutz von Verbrechensopfern gegen die Menschenwürde von Gefangenen aufzurechnen. Dass vor kurzem in Hessen ein recht fortschrittliches Gesetz über den Jugendstrafvollzug verabschiedet wurde, lässt hoffen: Die hessische Rechtspolitik scheint nicht so schlecht zu sein, wie die Sprüche des Ministerpräsidenten es vermuten lassen. So fällt die Forderung nach einem härteren Strafrecht auf jene, die sie erheben, zurück: Die Alten mögen diese Härte brauchen – zur Befriedigung eigener, zur Anstachelung fremder Strafbedürfnisse; den Jungen aber, den Verwahrlosten, den Verrohten, den auf die untere Sprosse der Leiter festgenagelten wird damit weder Einhalt noch Erziehung geboten. got

Jan 2008 | Allgemein, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren