Aus dem himmlischen Paradies mit Zorn und Schwert vertrieben, fristen Sterbliche fortan eine kummervolle Existenz. So lehrt es die Genesis, und bis tief in das 19. Jahrhundert dachten nun Denker – Philosophen, Theologen, Mystiker verschiedenster Couleur – über die Entfremdung von der Gottheit nach. Erst die Früchte vom Baum der Erkenntnis brachten, nach biblischem Verstand, einen Prozess in Gang, der den Mangel an Glück und Fülle zur Theorie von dieser Welt erhob. Denken müsse, wurde uns seit je beigebracht, mache traurig. Sobald wir unserer Grenzen und Unvollkommenheiten innewerden, wenn wir einsam über vielerlei Ungenügen reflektieren, wenn wir uns nach innen wenden und ins Stocken geraten, herrscht das Klima der Melancholie.
Dieses Phänomen aus langer Tradition ist auch George Steiner vertraut. Der Literaturwissenschafter, Kritiker, Essayist und Schriftsteller verkörpert in einem gerade im Carl-Hanser Verlag erschienenen Essay ein Nachsinnen, das Wirkliches als Idee wie als geschichtliche Realität immer wieder unter dem Aspekt der Hinfälligkeit vermisst. Steiners Schriften sind oftmals kluge und zugleich persönliche Melodien über das Thema des Verschwindens oder jedenfalls der verlorenen Illusionen. Das neueste Buch – ein knapp gehaltener Traktat – macht hier keine Ausnahme. In zehn Kapiteln versucht der Autor die Frage zu beantworten, weshalb Denken zur Trauer führt. Was geschieht unserem Geist, da wir zu grübeln beginnen? Welche Energien werden virulent, wenn wir uns vom Alltag ab- und der Meditation über Leben und Tod und das Misslingende allen Wissens zuwenden?

Aus dunklem Grund

Schelling, ein Romantiker der ungestillten Sehnsucht nach der Einkehr zu Gott, sprach von dem «dunklen Grund», vor welchem sich das Bewusstsein konstituiere – als Erfahrung heimatloser und daher trübsinniger Dissoziation. Anders als Hegel vertraute Schelling nicht darauf, daß sich der Weltgeist in der Geschichte zu sich selbst bewege und so die Kämpfe der Menschheit ans Ende bringe. Auch George Steiner ist kein Optimist des Fortschritts. Seit dem Turmbau zu Babel, dessen Überreste das prototypische Ende stolzen Aufbegehrens verkünden, regiert die Not von Provisorien. Steiner hält es hierin mit Walter Benjamin, der düster von den ruinösen Produkten der Historie handelte und Auswege aus dem Jammerland nur in mystischen Spekulationen umkreiste. Doch die zehn Punkte, die in Steiners Essay zur Erörterung gelangen, wollen noch tiefer in die Gründe und Abgründe des Denkens schlechthin hineinleuchten. Die Grundthese lautet also: Denken erfasst sowohl die Unendlichkeit – das Ewige, sei es im Schein des Göttlichen, sei es im Schweigen kosmischer Strahlung – wie die Endlichkeiten des Daseins, vor allem aber den Limes seiner eigenen Kompetenz. Niemals wohl wird es uns Menschen gelingen, das Denken selbst so weit zu denken, daß wir – aus erhabener Vogelschau – die Vorgänge vollkommen begriffen hätten. Im Gegenteil sind mit den Leistungen des Denkens stets zu viele Fragen verbunden, als daß wir zu sicheren Antworten gelangen könnten – ein Grund zur Schwermut, wenn man so will. Zweitens denken wir in der Regel gegen mancherlei Ablenkung. Träume, Assoziationen, flüchtige Impulse, die Wellenspiele aus Gefühlen und vagen Bildern stiften eine Umgebung, in der sich der geistige Akt strengen Zuschnitts nur selten zum machtvollen Erkenntnisblitz oder zur kreativen künstlerischen Schöpfung aufzubäumen vermag – noch ein Grund zur Trauer.
Eine dritte Quelle für Melancholie wäre in der Erfahrung eines seltsam zwiespältigen Sowohl-als-auch aufzuspüren. Einerseits verläuft unser Denken – so denken wir – in den Kreisen unverwechselbarer Individualität: Niemand kann wissen, was wir nun treiben und forschen. Anderseits sprechen und schreiben wir alsbald aus gegebenen Strukturen und Gemeinplätzen, und noch die Hoffnung, einmal wahrhaftig etwas Neues gedacht zu haben, erweist sich häufig als Illusion – wir waren nicht allein. Mit dem Denken der Wahrheit – zumal im «objektiven» Sinne – verhält es sich nicht anders. Sogar die Religionen bringen uns, zumal mit ihren Kriegen, weithin vor Augen, wie sich hier Anspruch und Anerkennung widerlegen; was die Geschichte der Naturwissenschaften auf andere Weise bestätigen könnte – menschliche Wahrheit neigt sich zur Seite des Pilatus.
Und so fort. Spezielles Ungemach bereitet die weithin bekannte Beobachtung, daß sich das Denken meist nur rudimentär und unzuverlässig in jenen Vorgängen repräsentiert, die als dessen Verwirklichungen auftreten. Steiner notiert: «Die Ergebnisse bleiben hinter unseren Erwartungen, hinter jener Ungeduld, die wir ‹Hoffnung› nennen, zurück … Gewöhnlich übersteigen Antizipation, Projektion, Phantasie und Vorstellung die Verwirklichung.» So ist es, und wieder böte die Geschichte hier reichlich Exempla. Schliesslich können wir selten mit Sicherheit wissen, was der andere wirklich denkt – selbst die Bezeugungen von Liebe und Zuspruch mögen uns täuschen, denn sie kommen über die Lippen, während hinter dem Schleier des Heuchlers Gegenteiliges sich verbirgt.

Kritik gegen Ironie

Das ist die eine Seite des Phänomens: Das Denken reibt sich und leidet an den Widerständen seiner selbst. Mit seinen Thesen reiht sich Steiner in die Schar der Kritiker – der cholerisch oder melancholisch bitteren Philosophen, die seit den alten Griechen bis hin zu Schopenhauer, Wagner, Heidegger und Adorno weder der Welt zu trauen vermögen noch deren Verstehen mehr zumuten wollen als die Einsicht, daß letztlich alles vergeblich sei. Vorlauf zum Tod oder Dämmerung der Götter; Hoffart des Willens oder Verblendung in der Zivilisation. – Das andere aber wäre, daß Denken, umgekehrt, gerade befreit: uns dazu befähigt, Gegebenes zu überschreiten und zu verbessern, lächelnd zu relativieren, ironisch zu brechen oder einfach nur stoisch auszuhalten. Nietzsches «Fröhliche Wissenschaft» markiert für die Moderne jenes Selbstbewusstsein, das erst in den Grenzen seiner Fähigkeiten mit Heiterkeit zu sich selbst gelangt. Von Demokrit über Epikur bis zu den Freigeistern der Aufklärung läuft die Gegengerade – die Denklinie der Erkenntnis, daß der Abschied vom Absoluten dessen quälende Macht listig hintergeht.
Wir Menschen sind Konstrukteure – nicht mehr, doch auch nicht weniger. Wir sehen den Abgrund und bauen Brücken; bedauern das Dasein und formen es zur Wohnlichkeit; zittern um Himmel und Hölle und geben diese allmählich der Fiktion in die Hand. Als Valéry über jenen dunklen Urgrund nachdachte, phantasierte er auch darüber, wie Pascal einerseits, Leonardo anderseits auf ihn eingetreten wären. Pascal wendet sich kummervoll nach innen, in die Meditation; Leonardo errichtet das Gerüst, das eine Passage möglich macht. Mit Leichtigkeit denn – und unterm Verzicht auf allzu viel name dropping – liessen sich zehn Thesen formulieren, die den Gangarten des Denkens das Gefühl einer aufgeräumten Unbelangbarkeit nachweisen: die Freiheit, die alles Seiende im Vergänglichen sowohl geniesst wie am Ende vergessen hat.

George Steiner: Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe. Aus dem Englischen von Nicolaus Bornhorn. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Carl-Hanser-Verlag, 90 S.,

Jan 2008 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren