Mit ihrer Erziehungsoffensive – soweit eigentlich schön und gut – hat unsere Familienministerin beträchtliches Aufsehen erregt. Auf der Bundespressekonferenz erschien Frau von der Leyen, um die Gründung eines „Bündnisses für Erziehung“ anzukündigen, aber statt -wie zu erwarten – in Begleitung der Bundesbildungsministerin, mit einem Kardinal und einer Bischöfin. Diese merkwürdige Besetzung wurde so erklärt: Die Kirchen seien bei der Wertevermittlung besonders gefragt, denn unsere Kultur gründe auf christlichen Werten, und im Übrigen stellten sie die meisten Kindergartenplätze; so böten sie die Chance der größten Breitenwirkung bei der moralischen Erziehung im besonders wichtigen frühkindlichen Alter. Der Ausschluss der anderen Religionsgemeinschaften sowie der nichtkirchlichen Trägerschaften in diesem Bereich rechtfertigte man pragmatisch; sie alle könnten später hinzustoßen. Zunächst jedoch handle es sich um ein Bündnis „auf der Basis christlicher Werte“.
Was hier inszeniert wurde, ist nicht schwer zu erraten: Die Partei mit dem großen C im Namen, die sich selbst als „Volkspartei mit einem christlichen Menschenbild“ versteht, geht in die erziehungspolitische Offensive mit den Volkskirchen als Koalitionspartnern; das ist alles andere als bloßer Pragmatismus. Mit ihrer Herablassung gegenüber allen anderen Erziehungsinstanzen, von den Erziehungs- und Sozialwissenschaften gar nicht zu reden, macht dieser Dreibund klar, dass er das Heft fest in der Hand zu behalten gedenkt; der ideenpolitische Machtanspruch eines christlichen Wertekonservatismus ist unverkennbar.
Theologischer Populismusm als ministerabler Humbug abgesegnet
Die Volkskirchen als Erziehungsautoritäten – ist das die viel beschworene „Wiederkehr der Religion“? Um in ihrer Sprache zu reden: Es ist die Aufgabe der Kirchen, das Evangelium zu verkündigen, und nicht, die Leute Mores zu lehren. Natürlich sehen viele Zeitgenossen in Geistlichen und Religionslehrern vor allem Moralpädagogen, und diese Sicht wurde ja auch durch die Politik bestätigt – durch die Einführung des Ethikunterrichts als Ersatz für das Fach Religion, denn ohne Wertevermittlung sollten die gottlosen Kinder ja nicht bleiben. Solchen Erwartungen aber dadurch Vorschub zu leisten, dass man sich als Kirche an einer Erziehungsoffensive beteiligt, ist theologischer Populismus, ist untragbarer Nonsens.
Die Wurzeln gehen in die Tiefe. Und in die Breite …
Ja, unsere Kultur hat tatsächlich christliche Wurzeln, aber nicht alle ihre Wurzeln sind christlich; das jüdische Erbe wird meist weit unterschätzt und das antike in der Regel ganz übersehen.
Plädoyer zur aktuellen Wertediskussion, für eine Stärkung der Urteilskraft.
Ist nicht schon allein die Rhetorik Verräterisch ? Hier wird wie fast überall von „den“ Werten geredet, als sei auch nur annähernd klar, was damit gemeint ist. Tatsächlich handelt es sich um einen Sammelbegriff, der sich vor allem durch seine Undeutlichkeit zum allgemeinen Gebrauch anbietet und dann das damit nur andeutungsweise Gemeinte mit einer höheren Weihe versieht. Bei den Werten geht es zunächst einmal um die Kriterien, nach denen wir Handlungen bewerten, loben oder tadeln, und es besteht kein Grund, unsere Bewertungsmaßstäbe, die wir in der Regel sehr genau zu formulieren vermögen, zu verdinglichen und sie wie Glühbirnen an irgendeinem platonischen Ideenhimmel aufzuhängen, damit sie uns dann moralisch erleuchten. Zu den Werten werden aber in der Regel nicht nur Bewertungskriterien, sondern auch alles mögliche Andere gezählt, das irgendwie mit Moral zu tun hat und von uns geschätzt werden soll; da werden Normen ebenso genannt wie subjektive Handlungsgrundsätze oder Tugenden, dann aber auch „der“ Rechtsstaat oder „die“ Familie. So trägt der Werte-Jargon auf seine Weise dazu bei, die Probleme unserer normativen Handlungsorientierung in ein quasi-religiöses Licht zu tauchen, und so die Theologen anzulocken.
Eine weitere Nachfrage: Was bedeutet die Tatsache, dass so viele Kindergärten in kirchlicher Trägerschaft betrieben werden? Zunächst einmal nur, dass es für die Staat billiger ist, sie zu subventionieren, statt sie zu übernehmen. Daraus eine christliche Kompetenz bei der frühkindlichen Erziehung ableiten zu wollen, setzte voraus, dass sich die primären normativen Prägungen in kirchlichen und nichtkirchlichen Kitas signifikant unterscheiden.
Früher war dies sicher einmal der Fall. Da wurde im katholischen Kindergarten unter dem Abbild eines Gehenkten und zu Tode Geschundenen auf die erste Beichte und die Erstkommunion vorbereitet. Auf evangelischer Seite wurde vor allem bei den Pietisten für ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein gesorgt, um die Bekehrungswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Das alles ist Vergangenheit, aber nicht etwa, weil die Kirchen sich liberalisiert hätten, sondern weil seit langem die Förderung ihrer Erziehungseinrichtungen mit öffentlichen Mitteln davon abhängig gemacht wird, dass in ihnen Leute beschäftigt werden, deren Ausbildung elementaren pädagogischen Bildungsstandards entsprechen. Wegen der so erzwungenen Angleichung des Profils des konfessionellen und des nichtkonfessionellen Personals gibt es tatsächlich keine Anzeichen dafür, dass die Wertevermittlung in beiden Erziehungsbereichen erheblich voneinander abweicht. Religiöses Engagement muss sich gerade hier den Prinzipien und Normen unseres säkularen Gemeinwesens unterordnen.
Weil das ja – in der Regel jedenfalls – geschieht, möcht man schon gern wissen, worin denn nun das spezifisch Christliche der Wertebasis bestehen soll, auf der das „Bündnis für Erziehung“ zu operieren gedenkt. Die Pressemitteilung des Familienministeriums nennt „Respekt, Verlässlichkeit, Vertrauen und Aufrichtigkeit“; das aber sind bürgerliche, wenn nicht sogar preußische Tugenden, während von den klassischen christlichen Tugenden „Glaube-Liebe-Hoffnung“ gar nicht die Rede ist. Kritische Stimmen haben mit Recht den Gerechtigkeitssinn oder die Zivilcourage vermisst, und weitere Aspekte unserer alltäglich gelebten Kultur des zivilisierten Umgangs wären hier dringend anzuführen. Was die Ministerin im Auge hat, sind nichts anderes als die Regeln und Normen humaner Gesittung, ganz unabhängig von religiösen Einstellungen. Die Tatsache, dass sich in einem so erweiterten Wertefundament überhaupt nichts identifizieren ließe, was eine christliche Lebensführung gegenüber einer nichtchristlichen auszeichnet, macht die Hohlheit des ganzen Unternehmens augenfällig.
Was die Gründer des ganzen Unternehmens zu ihrer Legitimation selbst anführen, ist zunächst die altvertraute konservative Krisenrhetorik: Es werde zu wenig erzogen, die Eltern seien verunsichert, viele lebten in „geistiger Armut und Beliebigkeit“, es fehle an Orientierung und Ermutigung. Darum endlich wieder „Mut zur Erziehung“ auf der Grundlage eines festen Wertefundaments; die neue Erziehungsoffensive ist also als Werteoffensive gemeint. Man fragt sich nur: Wo sind denn die Orientierungsdefizite, die schwarzen Löcher unserer rechtlich-moralischen Kultur? Wir leben doch gar nicht in einem normativen Vakuum, das nun von irgendeiner ideologischen Seite erst einmal mit Werten aufgefüllt werden müsste.
Das Grundgesetz, die Menschenrechte und die Regeln des menschlichen Umgangs erfreuen sich breitester Zustimmung; also muss auch die werteorientierte Erziehung nicht neu erfunden werden. Wenn zu wenig erzogen wird, dann liegt das nicht am Wertemangel oder daran, dass die Menschen die Werte nicht kennten oder nicht akzeptierten, sondern dass sie immer weniger wissen, was sie in unserer unübersichtlichen Welt im Konkreten bedeuten. Praktische Urteilskraft ist gefragt; sie vor allem wäre in der normativen Bildung zu üben und zu schärfen, und genau dies bedeutete dann auch die allein erfolgversprechende Praxis der Wertevermittlung.
Die Initiatoren des Bündnisses versuchen, ihre Erziehungsautorität durch Hinweise auf die christlichen Wurzeln unserer Kultur zu legitimieren. Unsere Kultur hat tatsächlich christliche Wurzeln, aber nicht alle ihre Wurzeln sind christlich; das jüdische Erbe wird meist weit unterschätzt und das antike in der Regel ganz übersehen. Die Idee, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, bestimmt die Schöpfungsmythen des Alten Testaments und des Koran gleichermaßen, und in unserer Tradition verdanken wir sie vor allem dem antiken Humanismus der Stoiker. In christlicher Perspektive hingegen ist jener Satz heidnisch, denn hier ist der Mensch ein Sünder von Geburt an und ohne Gottes Beistand zu nichts Gutem fähig. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts verurteilte Papst Pius IX. den Humanismus und die Idee der Menschenrechte als ketzerisch. Wer diese Werte heute als spezifisch christlich für sich vereinnahmt, muss daran erinnert werden, das sie einmal in zähem Ringen den Amtskirchen beider Konfessionen abgetrotzt werden mussten.
Die christliche Erbschaft in unserer Kultur taugt also nicht zur Selbstermächtigung christlicher Funktionsträger in Erziehungsfragen. Wir leben hier in Europa in einer pluralen Welt, in der die Religion längst aus dem Zentrum an den kulturellen Rand gedrängt wurde. Seitdem steht auch die Moral auf eigenen Füßen, aber genau vor dieser trockenen Wahrheit schrecken viele Besorgte zurück; sie fürchten, ohne den von ihnen gelenkten drohenden Zeigefinger des von ihnen erfundenen Gottes sähe niemand ein, warum man moralisch sein solle. Wenn sich Theologen an dem Geschäft beteiligen, die Religion als Mittel der Moralerziehung und damit der Sozialsteuerung einzusetzen, kehren sie nicht nur zur Ideologie des Staatskirchentums zurück, sondern sie befördern das, was auch den frommen Atheisten erbittern muss: die Instrumentalisierung der Religion für außerreligiöse Zwecke.
Wir lassen auch künftig im Namen des Herrn von uns hören. Hier, in der Neuen Rundschau.
Jürgen Gottschling