Ein Interview der Neuen Rundschau mit René Girard. Einer der bedeutendsten Religionsphilosophen der Gegenwart über archaische und andere Religionen …
Neue Rundschau: René Girard, wie kaum ein Zweiter haben Sie in Ihren Büchern erklärt, worin das Haupterbe der christlich-jüdischen Religion besteht: in der Kritik nämlich und in der Überwindung der Gewalt. Aber heute, nach einer zweitausendjährigen Wirkungsgeschichte der Religion, erleben wir genau das Gegenteil, nämlich eine Explosion der Gewalt. Muss das einen Religionsforscher nicht zutiefst irritieren?
René Girard: Nein, es ist keineswegs so überraschend, wie es scheint. Wie Sie wissen, unterscheide ich zwischen zwei Formen der Religion. Zwischen einer archaischen Religion, die grundsätzlich auf dem Blutopfer beruht, also auf Gewalt und gewalttätigem Handeln. Dagegen steht das Christentum. Es delegitimiert die heilige Gewalt der archaischen Religion. Es prangert sie an und nimmt uns das Opfer. Am entschiedensten natürlich in der Passionsgeschichte, aber auch an vielen anderen Stellen der Bibel.
Rundschau : Dennoch steht auch im Christentum das Opfer im Mittelpunkt.
Girard: Ja, aber ganz anders. Der entscheidende Unterschied ist, dass der biblische Text die Unschuld des Opfers erkennt. In den archaischen Religionen ist das Opfer immer schuldig. Nach Christus können wir unschuldige Opfer nicht mehr töten wie zu Rundschauen der archaischen Religion, jedenfalls einige von uns können das nicht. Ich würde sogar sagen: Der gesamte Geist unserer religiösen Kultur opponiert gegen das gewaltsame Opfer und eine vermeintlich heilige Gewalt. Wir suchen uns zwar immer noch Sündenböcke, aber wir missbilligen diese Praxis zutiefst. Dagegen beruhen archaische Religionen fundamental auf dem System des Sündenbocks – der Opferung Unschuldiger.
Rundschau : Würden Sie sagen, dass islamistische Terroristen ihre Religion als archaische Opferreligion interpretieren? Als heilige Gewalt?
Girard: Sie tun dies, jedenfalls ist das mein Eindruck. Zwar weiß ich nicht, ob der Islam grundsätzlich eine archaische Religion ist. Aber ich denke in der Tat, dass Fundamentalisten den Islam als Opferreligion interpretieren.
Rundschau : Reagieren Fundamentalisten nicht auch auf die Erfahrung von Erniedrigung und Demütigung?
Girard: Ohne Zweifel hat der Westen den Islam mit seiner technischen Überlegenheit unterdrückt. Er hat ihn nach Kräften ausgebeutet und kolonisiert. So gesehen, war der Algerien-Krieg eine prophetische Situation. GleichRundschauig bin ich alt genug, um mich an Rundschauen zu erinnern, in denen die Politik in Religion umschlug, zum Beispiel im Kommunismus. Bislang glaubte ich, dies sei vorbei und wir seien noch einmal davongekommen. Aber nun werden wir mit der vehementen Wiederkehr des Islams konfrontiert, mit einer Bewegung, die praktisch über Nacht auf der Weltbühne erschienen ist. Plötzlich war sie da, denken Sie nur an den 11. September. Mit einem Wort: Für mich hat der radikale Islamismus Ähnlichkeiten mit älteren Bewegungen, die die Politik theologisiert haben, und das empfinde ich als äußerst bedrohlich. Ich hoffe, das ist bloß eine Korruption des Islams. Und nicht sein Wesen.
Rundschau : Hieße dies, dass eine Reformation des Islams nur dann erfolgreich ist, wenn er in sich selbst die Grenze zwischen archaischer und nichtarchaischer Religion neu zieht?
Girard: Entscheidend ist, welches Verhältnis der Islam zu jenen religiösen Traditionen unterhält, die das Blutopfer und das Sündenbocksystem abgeschafft haben. Die biblische Tradition zeigt immer wieder Menschen, die denken, sie seien tugendhaft, aber in Wahrheit töten sie Unschuldige. Die Bibel, und diese Stellen empfinden wir ja immer noch als großartig, hat von Anfang an das Blutopfer sabotiert.
Rundschau : Nicht nur der Islam ist gewalttätig. Auch das Christentum zieht eine Blutspur durch die Geschichte, jedenfalls im Mittelalter. Besitzen die biblischen Religionen nicht ebenfalls einen gewaltsamen Kern?
Girard: Es gibt einen Kern der Gewalt im menschlichen Wesen selbst. Allerdings gelingt es archaischen Religionen besser als dem Christentum, den Gewaltkern des Menschen zu verbergen, und zwar durch die Gewaltsamkeit der Religion selbst.
Rundschau : Die Bibel nimmt uns also die Möglichkeit, Konflikte mit Gewalt zu lösen?
Girard: Wenn Sie innerhalb einer nichtgewalttätigen Religion leben, müssen Sie auf Gewalt verzichten, und zwar freiwillig, was sehr viel schwieriger ist. Je weniger unsere Institutionen auf Gewalt beruhen, desto weniger scheinen sie uns vor unserer eigenen Gewalt zu beschützen. Das heißt, wir können uns nur noch selbst anklagen: Die Gewalt, die wir ausüben, ist unsere Gewalt. Und von nichts anderem spricht das Christentum. Es entlastet uns nicht. Es spricht über die Ursünde der Gewalt und unsere gegenwärtigen Sünden. Natürlich scheitern wir immer wieder an der Gewalt, aber deshalb brauchen wir das Christentum ja. Das Christentum ist ein unvermeidliches Wagnis und ersetzt den Sündenbock der archaischen Religion. Es ist ein Ersatz des Ersatzes.
Rundschau : Und darin bestünde ebenfalls eine Differenz zum radikalen Islam?
Girard: Ich würde es so sagen: Wenn das Christentum über eschatologische Dinge spricht, dann spricht es nicht über die Zerstörung der Welt durch Gott. Es spricht über die Zerstörung der Welt durch die Menschen selbst. Die Fundamentalisten haben für diesen gravierenden Unterschied keinen Sinn. Hinter ihren religiösen Begriffen denken sie immer noch in archaischen Kategorien.
Rundschau: Viele behaupten, mit dem Monotheismus sei eine neue Form von Gewalt in die Welt gekommen. Zum Beispiel im Alten Testament, das den blutigen Aufstand der Makkabäer schildert.
Girard: Es mag sein, dass es sich dabei um eine Form von Gewalt handelt, die intensiver ist als andere Gewalt. Aber die Behauptung, im Alten Testament gebe es eine absolut neue Form von Gewalt, scheint mir doch ausgesprochen fraglich zu sein. Dass ganze Kulturen, Bevölkerungen und Rassen sich gegenseitig zerstören, könnte durchaus in die Neandertal- und Cromagnon-Rundschau zurückreichen. Das Besondere an der Bibel ist allerdings, dass sie diese Gewalt offen und ehrlich beschreibt. Sie schildert, wie feindliche Städte zerstört und ganze Bevölkerungen ausgelöscht werden. Als Text ist die Bibel viel gewalttätiger als die antike Mythologie. Ich sage das nicht gegen die Bibel, im Gegenteil.
Rundschau : Und worin unterscheiden sich dann die Gewaltdarstellungen?
Girard: Die antike Mythologie durchschaut ihre eigene Gewalt nicht, das ist der entscheidende Unterschied. Sie zeigt uns immer wieder schuldige Menschen, die schuldig sind. Das heißt: Diejenigen, die in mythologischen Erzählungen Gewalt ausüben, begreifen ihre eigene Gewalt nicht, an keiner Stelle. Sie behaupten sogar, sie würden Gerechtigkeit üben. Erst die Bibel, und das bewundere ich an ihr, durchschaut die archaische Gewalt und unseren Anteil daran.
Rundschau : Trotzdem gibt es durchaus prominente Stimmen, die behaupten, erst das Juden- und das Christentum hätten uns aus dem Paradies der Antike vertrieben. Bis zur Erfindung des Monotheismus hätten die Menschen friedlich unter der Sonne Griechenlands oder Ägyptens gelebt.
Girard: Wenn Sie griechische Tragödien lesen, dann war die Antike nicht unbedingt ein Vergnügen. Es war eine Welt, die nur in einer Hinsicht besser war also unsere: Die Menschen besaßen lediglich Schwerter, aber keine Atombomben. Wenn man damals die Atombombe gehabt hätte, dann wäre die antike Welt genauso gewesen wie unsere: Eine Welt voller Gewalt, in der sich niemand freiwillig ergeben will.
Rundschau : War das Heidentum nicht toleranter und friedfertiger als die biblischen Religionen?
Girard: Ich kenne diese Argumente. Das Lob des Heidentums zeigt eigentlich nur, dass sich die Menschen dem Evangelium nicht aussetzen wollen oder ihm nicht gewachsen sind. Denn in gewisser Weise ist das Christentum eine extrem komplexe Religion. Auf den ersten Blick scheint es sich gar nicht so sehr von dem zu unterscheiden, was vorher war. Das Christentum kann als Opferreligion gelesen werden, und das war im Mittelalter durchaus der Fall. Inzwischen lesen wir das Christentum aber anders. Wir verstehen immer besser, dass es vor allem eines fordert – nämlich Frieden.
Rundschau : Warum wird der Monotheismus trotzdem für die moderne Gewalt verantwortlich gemacht?
Girard: Weil er uns nicht erlaubt, Gewalt als Heilmittel gegen Gewalt einzusetzen. Die christliche Religion scheint uns nicht in derselben Weise zu schützen wie die archaischen Religionen mit ihren Blutopfern dies tun. Und deshalb wird sie beschuldigt, Gewalt zu erzeugen.
Rundschau : Die monotheistische Religion ist unser Sündenbock?
Girard: Durchaus. Derjenige, der uns die eigene Gewalt vor Augen führt und enthüllt, sitzt plötzlich auf der Anklagebank. Unsere eigene Gewalt wehrt sich heftig gegen eine Religion, die es uns verbietet, Gewalt einzusetzen. Deshalb ist das Christentum der perfekte Sündenbock, und es hat sich ja selbst so bezeichnet. Auch Jesus war ein freiwilliger Sündenbock. Er hat uns eine Religion hinterlassen, die den Gewalt- und Opfermechanismus in unserem Zusammenleben bloßgelegt hat. Deshalb provoziert er die Menschen, die christliche Religion auf alle mögliche Art und Weise zu leugnen und zu Grabe zu tragen. Doch damit ruft man den Gott der Gewalt ein zweites Mal an, und das wäre dann wirklich der Weg in ein neues Heidentum. Aber vielleicht liegt darin auch eine tiefe Ironie. Denn wenn sich alle Welt gegen die Religion verbündet, dann wird die Menschheit vielleicht friedlich. Das wäre sozusagen der Gipfel der Humanität. Wir erfüllen die Botschaft des Christentums, indem wir es nach Kräften verleugnen.
Rundschau : Auch Präsident Bush beruft sich ständig auf das Christentum. Hat man nicht allen Grund, dieser Religion skeptisch gegenüberzustehen?
Girard: Was die religiösen Aspekte der amerikanischen Politik angeht, so werden sie unglaublich übertrieben. Das Unglück der USA besteht nicht in der Theologisierung der Politik. Es besteht darin, dass Bush an der Macht ist und einen fürchterlichen Fehler gemacht hat – den Irak-Krieg.
Rundschau : Und warum gehört unter Intellektuellen die Kritik am Monotheismus dennoch zum guten Ton?
Girard: Ja, das ist wirklich komisch. Mir scheint, wir sind heute dabei, alle Übel dieser Welt den biblischen Religionen aufzubürden, und das tun wir ziemlich gut. Anstatt das Faktum anzuerkennen, dass Religion in erster Linie von der menschlichen Gewalt handelt, machen wir sie zum Sündenbock. So entlasten wir uns selbst. Wir vermeiden damit, der Wahrheit ins Auge blicken zu müssen – nämlich unserem eigenen Verhältnis zur Gewalt. Wenn das Christentum an allem schuld ist, dann müssen wir uns unsere heimliche Komplizenschaft mit der Gewalt nicht mehr eingestehen.
Rundschau : Wenn wir heute über den Monotheismus streiten, dann streiten wir in Wirklichkeit über unsere eigene Gewalttätigkeit?
Girard: So sehe ich es. Und diese Diskussion ist wahrscheinlich die interessanteste, die die Menschen je über ihre eigene Gewalttätigkeit geführt haben. Allmählich erkennen wir, dass die Gewalt nicht mehr kathartisch ist, sondern zerstörerisch. Zwischen uns existiert ein mimetischer Mechanismus, der die Gewalt immer weiter steigert. Noch einen Schritt weiter, und wir sind am Ende. Krieg und Gewalt erreichen einen Punkt, wo sie alles zerstören. Dennoch reicht die extreme Gewalt, zu der wir heute fähig sind, offensichtlich nicht aus, um uns zu zwingen, dieser Gewalt abzuschwören. So gesehen, leben wir in einer sehr aufklärerischen Situation. Sie zeigt uns alle möglichen Formen von Gewalt. Es ist unsere eigene.
Rundschau : Wie lässt sich der Zirkel von Gewalt und Gegengewalt unterbrechen?
Girard: Das weiß ich nicht. Ich sehe nur die Möglichkeit, gute Interpretationen des Christentums zu liefern. Wir müssen erkennen, was das Christentum von uns fordert und was es uns in gewisser Weise auch angetan hat: Es hat unsere Freiheit vergrößert. Die Freiheit, uns zu zerstören oder uns zu retten. Im Augenblick scheint mir, dass wir es vorziehen, uns zu zerstören. Aber den Monotheismus für unsere jetzige Lage verantwortlich zu machen – das ist ein Witz.
Rundschau : In Deutschland sind Sie, zum Beispiel von Botho Strauß, oft als jemand interpretiert worden, der uns das Heilige an der Gewalt vor Augen führt. Fühlen Sie sich missverstanden?
Girard: Das ist leider ziemlich oft passiert. Ich werde entweder als totaler Pazifist verstanden oder als ein Mann, der in die Gewalt verliebt ist. Ich bin nichts von beidem.
René Girard ist einer der bedeutendsten Religionsphilosophen der Gegenwart. 1923 in Avignon geboren, lebt und lehrt er seit 1947 in den USA, zuletzt als Professor für französische Sprache, Literatur und Kultur an der Universität Stanford. Gerade wurde er in die Academie Française gewählt. Girards Hauptthese lautet, dass sich die jüdisch-christliche Offenbarung elementar von archaischen Religionen unterscheidet, weil sie historisch zum ersten Mal die Gewalt kritisiert und das Blutopfer anprangert. Von René Girard erschien 2002 im Carl Hanser Verlag »Ich sah den Teufel vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums« (Rundschau Nr. 40/02). Eine vorzügliche Deutung seines Werks stammt von Wolfgang Palaver (»René Girards mimetische Theorie«; LIT-Verlag, Münster 2004; 456 S., 22,90 €).