Die alltägliche Nachrichtenflut aus aller Welt erschwert die Gewichtung von Ereignissen. Dies mag erklären, weshalb die westliche Welt die historische Bedeutung der Öffnung Chinas und seiner Rückkehr auf die Weltbühne bisher nur ungenügend wahrgenommen hat.

Die Große Mauer gilt als das einzige Menschenwerk, das vom Mond aus zu sehen ist. Das 6400 Kilometer lange Konstrukt, das im 4. vorchristlichen Jahrhundert begonnen und im 16. Jahrhundert vollendet wurde, sollte längst verblichenen chinesischen Dynastien dienen, unliebsame, aus ihrer Sicht barbarische Fremdlinge, vor allem nomadische Stämme aus Zentralasien, von ihrem sich als die Mitte der zivilisierten Welt verstehenden Reich fernzuhalten. Heute krabbeln Touristen aus aller Welt wie Ameisen auf und vor der Grossen Mauer, ihren Türmen, Zinnen und Toren herum. Jeder will vor diesem Wunderwerk der Menschheit abgelichtet werden.

Überblickt man von den Höhen die sich auf den nahen und fernen Bergzügen ringelnde Mauer, so bleibt ein überwältigender Eindruck der Ästhetik und Vergeblichkeit. Die Grosse Mauer, weit davon entfernt, ein Meisterwerk der prosaischen Verteidigungsarchitektur zu sein, ist allem voran ein Mahnmal für die existenzielle Notlage des Menschen. Alles, was er schafft, so schön, so mächtig es auch sein mag, ist zum Verfall prädestiniert. Welche Opfer auch für die Bekämpfung einer Gefahr, sie mag wirklich oder eingebildet sein, sie mag von anderen Menschen oder von der allmächtigen Natur ausgehen, erbracht werden, sie bleiben letztlich vergeblich.

Gefühle des Versagens

Ein chinesischer Bekannter beschreibt die Faszination seiner Landsleute mit der Größe als «Nationalcharakter» der Chinesen. «Für uns muß alles groß und wir selbst müssen in allem die Größten sein. Vielleicht hat es damit zu tun, dass wir von alters her stets so viele gewesen sind.» Man ist bestrebt hinzuzufügen, dass die Obsession mit der Grösse auch einem tiefsitzenden Gefühl der Verletzlichkeit oder gar des Versagens entspringen mag, einem Gefühl, das vor allem im schwierigen 19. und im katastrophalen 20. Jahrhundert ausreichend Nahrung erhalten hat. Noch immer mag zuweilen in Diskussionen über das Schicksal von Völkern und Nationen zu später Stunde die Frage aufkommen, wie denn eine Hochkultur so tief sinken konnte, dass sie sich von westlichen Kolonialmächten und vom japanischen Imperialismus erniedrigen lassen musste und sich schliesslich unter Maos Schreckensherrschaft tödliche Selbstverwundungen zufügte.
Aus der Geschichte Asiens weiß man, dass das schwierige Schicksal Chinas während der letzten zwei Jahrhunderte, aber auch schon in viel früheren Zeiten jeweils aus seiner Unfähigkeit resultierte, sich den neuen Herausforderungen der Zeit zu stellen. Anstatt offensiv sich mit dem Neuen auseinanderzusetzen, es vielleicht gar für den eigenen Gebrauch zu übernehmen, übte man sich jeweils in defensiver Selbstabschliessung. Die Ming-Dynastie stellte die maritimen Expeditionen ein, nicht nur weil es wirtschaftliche Zwänge gab, sondern auch weil man die Infizierung mit fremdem Gedankengut und fremden Werten unterbinden wollte. Man fürchtete, dass eine in regem Kontakt mit der Aussenwelt stehende Bevölkerung die Kontrolle über Land und Volk gefährden könnte. Dieselbe Ming-Dynastie sollte schliesslich von einer Fremdherrschaft, den Manchus, abgelöst werden, die übrigens ihre Vorfahren genau in jenen asiatischen Weiten hatte, vor denen die Grosse Mauer das Reich der Han schützen sollte.
Noch jedes Mal, so die Erfahrung der bewegten chinesischen Geschichte, wurden schließlich auch die aufwendigsten Defensivwerke umgangen, ob es sich nun um die Abwehr gegen äussere Einflüsse oder um die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung handelte. Nicht erst im 20. Jahrhundert neigt die chinesische Zivilisation, in markantem Gegensatz zu den Nachbarn Japan und Indien, zum revolutionären Bruch. Die bemerkenswerte Theorie vom «Mandat des Himmels», das die Herrschenden verlieren können, liegt dem zugrunde.
Der grosse Dichter Lu Xun beschreibt die Tendenz eines jeden Chinesen, um sich herum seine persönliche «grosse Mauer» zu bauen. Gemeint ist damit ebenso das Verhältnis zur Welt ausserhalb des chinesischen Kosmos wie der Rückzug auf die Kerneinheit der chinesischen Gesellschaft, die Familie, den Clan. Historische Studien mit psychologischem Hintergrund weisen nach, dass die in Krisenzeiten wie dem Bürgerkrieg, dem «grossen Sprung nach vorn» oder der «grossen Kulturrevolution» ausserordentliche Grausamkeit, mit der Chinesen gegen ihre Landsleute vorgingen, aus dieser Clan-Fixierung zu erklären sei. Derjenige, der nicht zur eigenen Grossfamilie, zum eigenen Clan gehört, so die an zahllosen Vorfällen untermauerte These, falle gleichsam aus der Humanität heraus. Die Beseitigung der individuellen «grossen Mauer» ist, so haben dies aufgeklärte liberale Denker wie Lu Xun erkannt, somit auch eine Grundvoraussetzung für eine moderne chinesische Gesellschaft mit einer weiter ausgreifenden Solidarität.
Doch aus der externen Perspektive ist die Beseitigung oder zumindest Aushöhlung der individuellen «grossen Mauer» gegenüber der Aussenwelt die wohl bemerkenswerteste Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte. Dabei geht es nicht nur um die Aussenpolitik und Aussenhandelspolitik Pekings, sondern vor allem auch um das, was sich in den Köpfen der Eliten abspielt. China, seine Herrscher, aber auch seine Denker haben im Laufe der langen Geschichte zwischen Öffnung und Selbstabschließung oszilliert.
Weitreichendste Öffnung
Im vergangenen Jahrhundert hat dies die Welt mit Maos Absolutismus und Deng Xiaopings Reformismus in eindrücklicher Weise demonstriert erhalten. Während im 19. Jahrhundert die Öffnung Chinas von auswärtigen Mächten mit letztlich verheerenden Konsequenzen erzwungen wurde, brachte das 20. Jahrhundert erst mit Sun Yat-sens Republik und danach mit Deng Xiaopings Reformen zwei eigenständige chinesische Versuche, sich in die Welt zu integrieren. Im ersten Falle sollten Warlordismus, Bürgerkrieg und die japanische Besetzung ein blutiges, vorschnelles Ende setzen. Heute befinden wir uns nun mitten in der wohl weitreichendsten Öffnung, die das Reich der Mitte in seiner jüngeren Geschichte aus eigenen Stücken unternommen hat. Kommt hinzu, dass die moderne Kommunikationstechnologie diesen Prozess machtvoll unterstützt. Noch nie haben so viele Chinesen im Ausland studiert und gelehrt, sind als Touristen und Geschäftsleute ins Ausland gereist oder haben Zugang zur grossen weiten Welt über Medien und Internet.
In unserer von kurzlebigen Sensationalismen geprägten Welt sind die Menschen nicht nur vergesslicher geworden, sie können auch allzu häufig die signifikanten Ereignisse nicht mehr gebührend einordnen. Man denke, wie rasch Europa nach dem Ende der Sowjetunion zur eurobürokratischen Routine übergegangen ist, anstatt die während mehrerer Generationen abgeblockte Rückkehr der grossen russischen Kultur und Zivilisation nach Europa voll für das gemeinsame Wohl des alten Kontinents zu nutzen. Im Falle Chinas laufen Europa und, etwas weniger ausgeprägt, die USA Gefahr, die historische Chance einer Rückkehr des Reichs der Mitte auf die Weltbühne und in die Weltwirtschaft ungenutzt zu lassen. Bevor man sich ernsthaft damit zu befassen begonnen hat, an einer neuen Weltordnung mit China als einem der Hauptpole zu bauen, werden bereits wieder alte Vorurteile über die «gelbe Gefahr» aus der Mottenkiste geholt.

Wann fällt die Mauer?

Die Zeit drängt, melden sich doch schon wieder auf den verschiedensten Foren und in unterschiedlicher Verkleidung die alten Gespenster des Protektionismus und Chauvinismus. Dabei könnte für die westliche Welt der bewährte chinesische Pragmatismus ein wichtiger Alliierter im Kampf gegen neue Obskurantismen sein. China hat heute dasselbe wirtschaftlich und geopolitisch untermauerte Interesse an einer stabilen Weltordnung wie die westlichen Industriestaaten. Diese Interessengemeinschaft gilt es konsequenter und vor allem mit mehr Emphase auf Gleichberechtigung zu nutzen, als dies bisher geschehen ist. Es ist dabei auch zu bedenken, dass die Argumente der Protektionisten, Nationalisten und Isolationisten nicht nur in vielen westlichen Ohren verlockend klingen können.
Ebenso wichtig ist neben der politischen und ökonomischen Ebene der kulturelle Austausch, und zwar in beiden Richtungen. Es gibt aus der chinesischen Ethik, Ästhetik und Philosophie vieles, das in der westlichen Welt einer erhöhten Beachtung und Wertschätzung wert ist. Dabei geht es um mehr als um einen Austausch im exklusiven Raum von Experten. Europa steht mit Bezug auf ganz Asien, insbesondere aber mit Bezug auf China vor der Herausforderung, seinen kulturellen Eurozentrismus durch Weltkenntnis, und dies heisst auch durch umfassende Asien- und ChinaKunde, zu überwinden. Doch aus der Sicht desjenigen, dem die Würde und das Wohlergehen des chinesischen Volkes ein Herzensanliegen sind, geht es ebenso sehr um eine Befruchtung Chinas durch Ideale und Werte, die in Europa hochgehalten werden.
Nach den Erniedrigungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch westliche Mächte, nach dem Trauma der japanischen Besetzung und nach den Verheerungen des Bürgerkriegs errichteten die Sieger in der Form der kommunistischen Einparteienherrschaft eine neue Mauer, die mit dem Eisernen Vorhang, der Europa während des Kalten Kriegs entzweischnitt, zu vergleichen ist. Von dieser Mauer werden so wichtige Errungenschaften wie Rechtsstaat, Demokratie sowie Menschen- und Bürgerrechte von China ferngehalten.

Tradition der Menschenwürde

Es kann keine Zweifel geben, dass es dem Gros der chinesischen Bevölkerung heute nicht nur in materieller, sondern auch in rechtlicher Hinsicht viel, oft sehr viel besser geht als vor zwei, drei oder gar vier Jahrzehnten. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die großen politischen Errungenschaften der menschlichen Zivilisation den Menschen im Reich der Mitte nach wie vor vorenthalten werden. Bevor der Einwand kommt, dass es sich hier um eine neuerliche eurozentrische Bevormundung handle, muß klargestellt werden, dass die noble Tradition der Menschenwürde und der Freiheitsrechte durchaus im chinesischen Kontext gesehen wird. China hat seit uralten Zeiten alle Voraussetzungen zu einem liberalen Konstitutionalismus. Es bedarf dazu nicht der westlichen Entwicklungshilfe.
Nachdem die wirtschaftliche und soziale Modernisierung Chinas gewaltige Fortschritte gemacht hat, kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis auch auf der politischen Ebene die Erneuerung kommt. Je länger diese hinausgeschoben wird, desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass China einmal mehr, wie zuletzt am Ende des 19. Jahrhunderts und nach der Ausrufung der Republik 1911, die Gunst der Stunde verpasst und dafür später einen umso höheren Preis wird bezahlen müssen. Denn eines ist klar, auf Dauer lässt sich die sozioökonomische Modernisierung ohne entsprechende politische Reformen nicht vorantreiben. Irgendwo wird die Bruchstelle kommen. Anzeichen sind bereits erkennbar darin, dass die soziale Unrast, die in verschiedenen Regionen und unter verschiedenen Bevölkerungsgruppen spontan an die Oberfläche tritt, wegen des Fehlens von legalen Ventilen, über die sich Frustration und Unzufriedenheit friedlich entladen können, vor allem im Falle eines wirtschaftlichen Abschwungs systemgefährdende Ausmasse annehmen könnte.
Derzeit versuchen allerlei Zensoren, im Cyberspace um China eine virtuelle Mauer aufzubauen. Sie werden, wenn es um das Fernhalten fremder Einflüsse geht, damit genauso scheitern wie die Erbauer der Grossen Mauer. Aussergewöhnliche Chinesen wie Mencius, Zheng He, Kang Youwei, Sun Yat-sen, Lu Xun und, leider nur im wirtschaftlichen Bereich, Deng Xiaoping hatten realisiert, dass China keine Zukunft haben kann, wenn es sich hinter den nur scheinbar sicheren Bollwerken der Grossen Mauer verschanzt. Mit Zivilcourage und mit weitsichtigem Vorgriff auf den Zeitgeist hatten sie die offensive Auseinandersetzung mit den anstehenden Herausforderungen propagiert.

Stillstand ist keine Option

Es gehört zur Natur von Technokraten, wie sie heute in der chinesischen Führung dominieren, dass sie der Vorsicht den Vorrang geben. In der Tat ist es ein Positivum, dass heute in China Pragmatiker und nicht Visionäre das Sagen haben. Nach dem, was China unter Mao hatte durchleiden müssen, kann niemand dem Reich der Mitte eine Rückkehr zu Ideologie und Chiliasmus wünschen. Nicht nur die Chinesen selbst, auch die Welt insgesamt kann kein Interesse daran haben, dass China ein weiteres Mal kostspielige Experimente der Art des «großen Sprungs nach vorn» oder der »grossen Kulturrevolution» wagt.
Doch politischer Stillstand ist angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Dynamik, die grosse Teile Chinas ergriffen hat, auch keine Option. Vielmehr ist das krampfhafte Festhalten an den bestehenden politischen Strukturen ein sicheres Rezept dafür, dass China ein weiteres Mal den Anschluss an die Moderne verpassen wird. Wie die politische Reform gestaltet werden wird, ist selbstverständlich Sache der Chinesen, und die Gestaltung wie das Resultat des Prozesses werden eine souveräne Angelegenheit sein, so wie dies bei der erfolgreichen Transition zur Demokratie in Spanien oder in Taiwan der Fall gewesen war.
Raum für einen intensiven und ausführlichen Dialog zwischen Modernisierern in China und draussen in der Welt gibt es allemal. Wenn denn, so zu hoffen steht, in den nächsten fünf Jahren die Mauern, die der politischen Modernisierung entgegenstehen, endlich geschliffen werden – nicht nach Maßgabe von amerikanischen oder europäischen Experten, sondern mit Hilfe des großen Vermächtnisses von Sun Yat-sen –, dann sollte dies in der Gewissheit geschehen, dass die Öffnung der Tore nicht zu einem wilden Durcheinander, sondern zu einer ebenso erfolgreichen Neuerung führt, wie sie bereits die ökonomische Transition vom maoistischen Pauperismus zur moderaten Wohlstandsgesellschaft des neuen China vorgezeichnet hat. Die gerade in Ningbo durchgeführte „Deutsche Woche“ – an der auch eine hochkarätige Heidelberger Delegation teilgenommen hat – mag als Zeichen dienen …

Nov. 2007 | Allgemein, Politik, Wirtschaft, Zeitgeschehen | Kommentieren