Tocotronic http://www.tocotronic.de/ veröffentlicht wieder einmal mehr als nur ein weiteres Album. „Kapitulation“ erscheint als Manifest. Die achte Platte endet mit der unablässig wiederholten Litanei „Kein Wille triumphiert!“ Wer so aus der CD entlassen wird, verweigert sich der (sogenannten) neoliberalen Leistungsethik nicht nur, weil er keinen Bock mehr hat. Sondern weil ihn als Deutschen das historische Gewissen plagt. Am Anfang plaudert Dirk von Lowtzow noch über den punkigen Triumph des Scheiterns: „Mein Ruin, das ist mein Ziel/ Die Lieblingsrolle, die ich spiel/ Mein Ruin ist mein Triumph/ Empfindlichkeit und Unvernunft.“ In einem Dutzend Songs vom Ich zum Wir.

Grundsätzlich haben Tocotronic selbstverständlich Recht. Es geht um seelische Hygiene. Nur der hoch qualifizierte Langzeitarbeitslose wird sich diesen Luxus der Verweigerung nicht leisten wollen. Für die meisten Tocotronic-Plattenkäufer stellt sich allerdings die Frage, was man mit Magisterabschlüssen, verschiedenen Praktika, vier Fremdsprachen und einem Wohnort in zentraler Großstadtlage erst noch anfängt. Opfert man die langjährige Freiheit? Folgt man Tocotronic, die von einer familiären, fürsorglichen Plattenfirma nun zum Weltkonzern gewechselt sind? Oder beherzigt man die Songs von Tocotronic und befolgt den Rat: „Du mußt nicht zeigen, was du kannst/ Du darfst nicht sagen, was du denkst/ Man soll nicht wissen, wie du fühlst/ Nimm all dies als dein Geschenk“?

Aber vielleicht ist das Problem des Albums „Kapitulation“ ein anderes. So nebenbei klingt die Musik sehr schön, der Rumpelrock der frühen Jahre und der rätselhafte Bombast zwischendurch waren zuletzt bereits einem melodischen und luftigen Gitarrenpop gewichen. Niemand mußte Tocotronic noch mit „Grunge“ und „Indierock“ entschuldigen. Sie musizieren heute einfach. Wer aber genauer hinhört, wird vom Text gestört. Der autonomen Schönheit eines Popsongs wird in Deutschland eher mißtraut. Auch diese Haltung wurzelt im Historischen, selbst in der jüngeren Geschichte einer Band wie Tocotronic.

Erst bereicherte die unabhängige Plattenfirma L’Age D’Or den frisch vereinten deutschen Popmarkt mit dem Leitgedanken, Pop dürfe „nicht dumm“ sein. Darauf gründete die „Hamburger Schule“, und aus dieser Schule wiederum trat der „Diskurspop“ seinen Weg durch die Institutionen an. Auch Dirk von Lowtzow zog damals von Offenburg nach Hamburg und zum Label L’Age D’Or. Man freute sich dabei über von Lowtzows fast schon unverschämte Nörgeleien wie „Ich bin neu in der Hamburger Schule, und ich kenn mich noch nicht so gut aus“ oder „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Da klang auch die Musik nicht weiter schlimm. Sie paßte sogar prächtig zu gesungenen Parolen gegen Michael Ende, Freiburg, Tanztheater und Gitarrenhändler.

Tocotronic lieferten die Aphorismen für den letzten jugendkulturellen Ausbruch aus der Langeweile fest gefügter Lebenswelten. „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun zu haben“ und „Wir kommen, um uns zu beschweren.“ Es war aber auch die Zeit grassierender Ironie, als niemand das Gesungene ernst nahm und auf T-Shirts drucken ließ. Und nun?
Jetzt schaut man auf dem Album „Kapitulation“ das Ölporträt von Douglas Morgan Hall (gemalt von Thomas Eakins, 1889) an. Die Augen feucht und rot, schafft es der Mann nicht einmal mehr, zurück zu schauen. „Wenn du traurig bist/ Und einsam und allein/ Wenn die Welt im Schlaf versunken ist/ Du wirst es nie bereuen/ Kapitulation, ohoho!“ So baut von Lowtzow einen wieder auf. Es siegt, wer seine Waffen streckt. Mit „Kapitulation“, dem Lied, bewegt die Band sich radikal in Richtung Stimmungsschlager. „Ohoho“, das klingt noch immer besser als zum Beispiel: „Jeder Zweifel, jeder Zwang verschwand vor unsern Augen/ Und die Pforten des Himmels öffneten sich vor unsern Augen/Und die Worte der Weisheit trugen uns so weit wie nie/ Harmonie“. Dann lieber „ohoho“.

Man muß sich – mit wachsender Panik – fragen dürfen, ob („wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt“) man richtig lebt und nicht, ob man die Platte mag. Der Sänger hat es gut. Er hat sich ruiniert, er ist „kein Märtyrer, nur Komödiant“, er sitzt daheim in seiner Festung oder ruht auf Rosenblättern. Und begibt er sich hinaus, dann läuft er über feuchtes Gras und frischen Tau, betrachtet „Pflanze, Tier und Mineral“, die Wolken in den Pfützen, und am Parktor sieht er Sphinxen. Oder er krakeelt: „Sag alles ab, geh einfach weg/ Halt die Maschine an … Du mußt dich nicht bemühn.“ 2005 stemmten sich Tocotronic gegen Pragmatismus und McKinsey mit dem Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“. Heute wirken alle Lebenszwänge wie ein Ärgernis. Dagegen hilft allein die Flucht nach innen, in eine Romantik des Verweigerns und Verlierens, oder raus in die Natur.

Auf dieser Flucht befindet sich die Rockband Tocotronic heute ziemlich sicher in der Mitte zwischen den Naturromantikern von Blumfeld und den Schmerzromantikern von Rammstein. Wobei niemand weiß: Ist das tatsächlich alles ernst gemeint? Wie eine hartnäckige, ärgerliche Hinterlassenschaft der Neunzigerjahre strahlt die Ironie noch auch aus der seriösesten Idee. Im Internet liest Dirk von Lowtzow sogar selbst den Klappentext zum Album und behauptet: „Kapitulation. Das schönste Wort in deutscher Sprache.“ Das Wort im Dienste der Musik – das wäre Pop. Man hört es aber nicht. Selbst wer im Kampf für eine bessere deutsche Rockmusik kapitulierte, könnte es nicht hören. got

Tocotronic: Kapitulation (Vertigo / Universal)

Okt. 2007 | Allgemein, Feuilleton, Junge Rundschau | Kommentieren