Die NPD-Wähler sind mehrheitlich keine Protestwähler mehr. Sie sind NPD-Wähler. Es ist ihnen ganz gleichgültig,

ob es Aufruhr in Berlin, über Mügeln, oder Lärm in den Medien über sie gibt. Die politische Provokation spielte in den „Republikaner“-Wahlen der Vergangenheit noch eine Rolle, jetzt aber offenkundig nicht. Die Medien erreichen jene Wähler sowieso nicht mehr. Vergebens haben Reporter in der Uckermark oder in Postlow, wo 38,2 Prozent der Bevölkerung NPD wählten, dort nach Hakenkreuzen und Sturmtrupps gesucht. Was wir erleben, ist eine Verwandlung ganz anderer Art, tiefgreifender, langfristiger und auf beunruhigende Weise auch selbstverständlicher als alles Vorangegangene. Fast intuitiv haben das Politiker erkannt: Da ist etwas im Entstehen, das die alten politischen Übersichtlichkeiten beendet.

Nicht weil die Menschen anders denken – sondern weil die, die dort leben, der demographischen Gegebenheiten wegen im Begriff sind, in einer ganz anderen Gesellschaft zu leben. In einigen Kerngebieten Deutschlands – zuerst in Mecklenburg-Vorpommern – entstehen Bevölkerungszusammensetzungen, wie wir sie bislang nur nach dem Ersten Weltkrieg oder aus dem Mittelalter kannten, und einige Gebiete sind soziodemographisch so strukturiert wie einst die Milieus, aus denen die NSDAP ihre Reserven bezog.

Bevölkerungspolitisch induzierte Miniatur-Revolutionen

Das soll nicht heißen, daß die Geschichte sich wiederholt. Die marodierenden, orientierungslosen Freikorps der Weimarer Republik sind ohne Zweifel etwas anderes als die mit Bierflaschen bestückten jungen Männer in den verlassenen Gebieten Mecklenburg-Vorpommerns. Aber im Kern treten wir in einigen Regionen des Landes jetzt in eine Phase bevölkerungspolitisch induzierter Miniatur-Revolutionen ein, die das Gefüge des Ganzen verändern werden.

Dieser Prozeß wurde für die neuen Bundesländer schon vor Jahren vorausgesagt. Die Radikalisierung eines Landes hat nicht nur, wie gerade die Kulturkritiker immer noch gerne glauben, mit Arbeitslosenquoten und Weltbildern zu tun. Ihr entscheidender Faktor ist vielmehr die demographische Zusammensetzung einer Bevölkerung. Die Deutschen haben die Auswirkungen solcher demographischer Veränderungen bisher nur als Kulturwandel in Nischenmilieus erlebt: als das Verschwinden beispielsweise der autonomen Szene in Kreuzberg und anderswo, die weniger mit einem Weltbildwandel als mit den nachrückenden geburtenschwachen Jahrgängen zu tun hat.

Arbeitslosigkeit ist nicht alles

Wir wissen, daß zwölf Prozent der unter 30jährigen und sieben Prozent der 30- bis 44jährigen die NPD gewählt haben. Mit 17 Prozent, so das Institut „infratest-dimap“, sei die NPD bei den 18- bis 24jährigen fast neunmal so stark wie bei den über 60jährigen gewesen. Aber noch auffälliger ist ein anderer Wert: Nur vier Prozent der Frauen haben NPD gewählt, aber zehn Prozent der Männer.

Diese Daten sind zunächst nicht anderes als Wahlanalysen. Bringt man sie aber mit der demographischen Lage Mecklenburg-Vorpommerns zusammen, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: In einigen Teilen wird Deutschland zu einem Land, in dem Arbeitslosigkeit nur ein kleiner Teil eines schlimmen Schicksals ist. Abwanderung, Alterung und die daraus resultierende wirtschaftliche Depression haben erstaunliche Milieus hervorgebracht, von denen wir jetzt die fast still werkelnde NPD profitieren sehen. Seit 1995 haben vor allem junge Frauen die neuen Bundesländer verlassen – unter den 1,5 Millionen Menschen, die in den Westen gingen, waren überdurchschnittlich viele 18- bis 29jährige Frauen. „Die zurückbleibenden Männer“, so das Berlin Institut für Bevölkerungsentwicklung, „sind häufig gering qualifziert und arbeitslos. Dieser Umstand beschleunigt den Bevölkerungsschwund noch. Denn Männer am sozial unteren Ende des Heiratsmarktes finden, statistisch gesehen, selten eine Partnerin zur Familiengründung.“

Ein fast beispielloser Männerüberschuß

In Uecker-Randow etwa, wo die NPD auf mehr als 15 Prozent der Wahlstimmen kommt, verzeichnen die Forscher nicht nur eine beträchtliche Alterung der Gesellschaft, verstärkt noch durch Abwanderung, sondern mittlerweile auch einen in der deutschen Geschichte fast beispiellosen Männerüberschuß. Auf einhundert Männer im Alter zwischen 20 und 35 Jahren kommen dort nur noch 74 Frauen. Da in jedem Geburtsjahr weniger Mädchen zur Welt kommen, Männer aber im Schnitt drei Jahre jüngere Frauen heiraten, verschärft sich die Lage geradezu dramatisch. Denn der Verteilungskampf vieler Männer um die weniger werdenden Frauen endet nicht nach ein oder zwei Jahrgängen, sondern die überzähligen Männer summieren sich über mehrere Jahre.

So hat sich eine Lage ergeben, die nicht auf Mecklenburg-Vorpommern beschränkt bleiben wird: daß in unzähligen Dörfern junge arbeitslose Männer mit zurückgebliebenen alten Menschen zusammenleben, nicht nur ohne Aussicht auf Arbeit, sondern auch ohne Aussicht auf eine Partnerin. Seit Klaus Theweleit die „Männerphantasien“ der Freikorpsmänner der Weimarer Republik analysiert hat, wissen wir, wie sehr die Attraktivität männerbündischer Lebensformen durch die Abwesenheit von Partnerinnen – oder auch nur der Möglichkeit, eine zu finden – steigt. Aggressivität, Gewaltbereitschaft, Mitleidlosigkeit sind vorherrschende Kennzeichen dieser Milieus, soziale Auffälligkeiten, bei denen unsere Institutionen versagen, weil sie sich auch nicht mehr durch wirtschaftliche Alimentierung regulieren lassen. Je mehr heiratsfähige Männer aus sozialen Gründen daran gehindert werden zu heiraten, weil es die Frauen dazu entweder nicht gibt oder von denen, die es gibt, keine die Zurückgebliebenen haben will, desto mehr Testosteron zirkuliert.

Schlichtweg explosiv

„Bare branches“ – nackte Äste werden diesen Milieus junger Männer inmitten alter Leute in Indien und China genannt, wo der Männerüberschuß (aufgrund der Abtreibung von Mädchen) ganze Regionen mit Gewalt überzieht. Junge Männer ohne Zukunft sind eines, junge Männer ohne Zukunft und ohne die Chance zur festen Bindung etwas anderes; und junge chancenlose Männer, ohne die Chance zur Heirat, ohne Arbeit und als Teil alternder Gemeinschaften sind schlichtweg explosiv.

Damit werden wir in Zukunft in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch in Brandenburg und auch in Teilen Westdeutschlands zu tun haben. Ihr bedrohliches Potential widersteht fast allen sozialtherapeutischen Maßnahmen. Dieses Potential ist auch keineswegs auf die NPD beschränkt, aber der Nationalsozialismus spricht diese Milieus bezeichnenderweise vor allem wegen seiner männerbündischen Elemente an. Die demographischen Ursachen des Extremismus erzeugen Risiken, die sich nur durch die kostspieligen Mittel von Überwachen und Strafen in Schach halten lassen. Diagnostisch gesprochen: Der Traum der alten Bundesrepublik, daß wir heilen können, was politisch-extremistisch entsteht, ist ausgeträumt. Wir können nicht heilen.

Jürgen Gottschling

Sep. 2007 | Allgemein, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren