Zur Wirklichkeit Europas gehört anscheinend das verbreitete Gefühl, Europa sei etwas Unwirkliches. Es müsse doch, sagt dieses Gefühl, außer der Paragraphenflut aus Brüssel noch etwas Verbindliches, neben dem Binnenmarkt noch etwas Verbindendes geben, im rechtlich-ökonomischen Rohbau namens Europäische Union noch etwas irgendwie kulturell Erbauliches und Gemeinschaftsstiftendes. Die Sehnsucht danach wird offenbar auch außerhalb der weiter werdenden Grenzen der EU verspürt; und sie kann sich auf Umwegen, negativ und wehrhaft, artikulieren – in einem Nein zu dem etwa, was «wir» nicht wollen. In der Schweiz beispielsweise hat sich kürzlich eine – fragwürdige – Initiative gegen den Bau von Minaretten formiert.

Wie Heringe

Denen, die sich auf die Suche nach einer europäischen Identität und deren Substanz begeben, bietet sich seit geraumer Zeit schon die «Wertegemeinschaft» an. Der Ausdruck scheint dem seit fünf Jahrzehnten für das institutionalisierte Europa geläufigen Begriff der Rechtsgemeinschaft widersprechen zu wollen: Nicht das karge Paragraphenwesen, sondern das aus dem Füllhorn der abendländischen Überlieferung sich speisende Wertebewußtsein bilde das einigende Band Europas. Der Wertbegriff erfreut sich, auch ohne daß er sich mit dem der Gemeinschaft vermählte, länger schon allgemeiner Beliebtheit. Er ist indes alles andere als eindeutig – und er hat seine Tücken. Seit Nietzsche provoziert er in der Philosophie, in der er zwar überwiegend mit offenen Armen empfangen worden ist, ätzende Kritik.

«Der Kultus der Werte», klärte im Sommer 1963 Theodor W. Adorno die Hörer seines Kollegs zur Moralphilosophie auf, «ist reaktiv zu verstehen aus der Desorientiertheit und Entstrukturierung einer Gesellschaft, in der zwar die traditionellen Normen nicht mehr bestehen, aber die Individuen sich auch nicht selbst bestimmen, sondern nach etwas greifen, woran man sich halten kann.» Die Figur, die die Menschen dabei mitunter machen, ist keine gute; sie strecken ihre Hände nach «irgendwelchen absoluten, im Ewigen festgemachten» Wesenheiten aus – Werten eben -, die «wie Heringe von der Decke herunterhängen». Heringe aber, so darf man ergänzen, hängen nicht von selbst dort; sie werden von Menschen eigenhändig in den Wertehimmel des Dachstuhls gehievt.

Als bekennender Nietzscheaner gibt uns Adorno zu verstehen: Wer Werte «macht», macht alles nur noch schlimmer, beschleunigt wider Willen, was er aufzuhalten wähnt: den Nihilismus, die Entwertung der Werte. Es ist aber nicht nur die Inflation der Werte, die bedenklich stimmen könnte. Wer Wert sagt, sagt nicht selten auch: Hier ist Schluß mit der Diskussion, hier gibt keine verständigungsbereite Vernunft mehr Auskunft, hier regiert der Wille, «meiner» oder «unserer». Für die irrationale Dimension der Wertentscheidung hat vor bald einem Jahrhundert der Soziologe Max Weber die Aufmerksamkeit geschärft. Vom Willen zur Willkür, vom Dezisionismus und Subjektivismus zum Kampf der Weltanschauungen oder, nach heutigem Sprachgebrauch, zum Zusammenprall der «Kulturen» ist der Weg nicht weit. – Aber, so ließe sich einwenden, ändert sich nicht alles, wenn der letzte Wert, dem man sich verpflichtet, gerade die Einsicht in die Vorläufigkeit aller Werte, in ihre «Nichtabsolutheit» ist? Nicht grundsätzlich, lautet die Antwort, es wird nur ein wenig komplizierter. Wie kompliziert, das hat vor einigen Jahren schon Robert Spaemann formuliert.

Wir nehmen ausdrücklich die europäische Wertegemeinschaft ins Visier – und skizzieren so eine eigentümliche Dialektik: „Absolute Wahrheiten, unbedingte Einsichten gelten in unserer Zivilisation als intolerant und als Gefährdung unserer Wertordnung. Aber für diese Wertordnung wird nun gerade absolute Geltung verlangt. Diese Geltung aber ist rein voluntaristisch. Wir machen universelle Menschenrechte geltend und haben gleichzeitig das schlechte Gewissen, eurozentrisch zu sein, wenn wir dies tun. Tatsächlich ist der Wertskeptizismus das eigentlich Eurozentrische. Es gibt ihn in keiner anderen Zivilisation. Der Begriff der Wertegemeinschaft ist nun, so behaupte ich, Ausdruck dieses Relativismus.  Wir schätzen diese und jene Verhaltensweisen, und nur wer sie auch schätzt, gehört zu uns. Und wer sie nicht schätzt, der wird etwas erleben.“ (Spaemann)

Die Errungenschaft des liberalen Rechtsstaats – eine bestimmte weltanschauliche Gesinnung niemandem abzuverlangen – werde wieder preisgegeben, wenn der Staat sich als Wertegemeinschaft verstehe, auch wenn es eine «liberale Wertegemeinschaft» sei, mahnt Spaemann weiter. Und er kommt zu dem Schluß: «Das Europa der Zukunft sollte eine rechtliche Gemeinschaft sein, die kleinere Gemeinschaften und deren eigene Werte schützt und akzeptiert, aber davon Abstand nimmt, selbst eine Wertegemeinschaft zu sein.» Eine solche Kritik, gewiß, kommt ohne Zuspitzung nicht aus. Sie macht so aber die Gefahr eines Relativismus sichtbar, der sich zum Absolutum aufspreizt. Man könnte auch sagen: die Gefahr einer Ratlosigkeit, die sich dazu überredet, letztgültiges Wissen zu sein, und sich unter dem Mantel der Wertegemeinschaft verbirgt.

Konsens im Konflikt

Vor derlei Selbstbetrug kann man sich nicht ein für allemal in Sicherheit bringen. Man kann ihm aber mit Wirklichkeitskenntnis vorzubeugen versuchen. Reichhaltiges Anschauungsmaterial dafür, daß Europa nicht die homogene Wertgemeinschaft ist und sein kann, als die es immer wieder imaginiert wird, bot vergangene Woche ein internationaler Kongress in Karlsruhe: «Werturteile, Judging Values». Veranstaltet wurde er von der Stadt und von der Kulturstiftung des Bundes, gedacht war er als Beitrag zur deutschen EU- Ratspräsidentschaft 2007. Zwar rief zur Eröffnung der Präsident des ortsansässigen Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, dringend dazu auf, sich auf einen europäischen «Wertekanon» verbindlich zu verständigen. Doch verhandelt wurden in Tat und Wahrheit Wertkonflikte, die sich auf dem weiten Feld des Lebensschutzes entzünden oder auf dem der Religionsfreiheit. (Ja, auch in Karlsruhe schaute Tariq Ramadan kurz vorbei, um andeutungsreich davor zu warnen, aus der europäischen Herkunftsgeschichte die Kultur des Islams auszugrenzen.)

Die moralischen, religiösen und kulturellen Differenzen, die Europa etwa in der Frage des Schwangerschaftsabbruches oder der Embryonenforschung durchziehen, sind gravierend. Nationale und europäische Gerichte können diese Konflikte austragen und in einzelnen Fällen auch schlichten und beilegen helfen; sie können sie aber nicht grundsätzlich verhindern. Jacob Burckhardt, daran hat der Philosoph Ludger Honnefelder bei seiner Bilanz des europäischen Diskurses in Sachen Bioethik erinnert, bestimmte das Proprium Europas als discordia concors, als «einige Uneinigkeit»; und auch der (einstweilen gescheiterte) Entwurf für einen Verfassungsvertrag sprach von der «Einheit in Verschiedenheit».
Wenn diese Formel nicht nur – geeignet für Sonntagsreden – daher gesagt sein will,  dann sollte die Verschiedenheit eher in den kulturellen, religiösen und moralischen «Werten» und die Einheit eher in der Rechtsgemeinschaft gesucht werden.

Dann sollte zudem auch der Streit (nein, nicht der Kampf) um Werte begrüßt, die Forderung nach einem Wertekonsens aber beargwöhnt werden. – Es sei denn, es handelte sich um den Aufruf, sich darauf zu einigen, daß der Streit um Werte derjenige Wert sei, welcher einer Einheit in Verschiedenheit zuträglich ist.

Jürgen Gottschling 

Sep. 2007 | Allgemein, Feuilleton, Politik | Kommentieren