Die wohl schwerste Zeit seiner Geschichte durchlebte das jüdische Volk während der Jahre 1933 bis 1945, als Hitler und die Nationalsozialisten Deutschland und weite Teile Europas beherrschten. Mit einem Schlage wurde das in Zentral- und Osteuropa gelegene demographische und kulturelle Zentrum des Judentums nahezu vernichtet, in dieser Zeit wurden sechs Millionen von den Deutschen und ihren Verbündeten ermordet; eine hochentwickelte, jahrtausende alte Kultur wurde mit einem Schlage annähernd ausgelöscht.
Am 19. August 1953 erließ Israels Parlament, die Knesset, ein „Gesetz zum Andenken an die Märtyrer und Helden“ – das Gesetz von Yad Vashem: „Hiermit wird in Jerusalem ein staatliches Institut, genannt Yad Vashem, errichtet zum Gedächtnis an die sechs Millionen Juden, die den Märtyrertod durch die Nazis und ihre Helfer erlitten; an die jüdischen Familien, die durch die Unterdrücker ausgerottet wurden; an die Gemeinden, Synagogen, Bewegungen und Organisationen, die kulturellen, erzieherischen, religiösen und wohltätigen Institutionen, die in der Absicht vernichtet wurden, den Namen und die Kultur Israels auszulöschen“. „Ich werde ihnen in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal stiften und einen Namen, besser, denn Söhne und Töchter“; diese Worte stehen im Buch Jesaja. Der Vers endet mit den Worten: „einen ewigen Namen stifte ich ihnen, der untilgbar ist“: „Yad Vashem“. Und so wollten auch die Gründer dieser Gedenkstätte ihr Projekt verstanden wissen. Sie nannten es Yad Vashem, weil sie der Meinung waren, daß „nur hier“ – und das meint im Lande Israel – „in meinem Haus, in meinen Mauern“, wie es in dem Bibelvers geschrieben steht, das jüdische Volk „ein ewiges Mahnmahl“ stellen soll.
Bereits in der Zeit des zweiten Weltkrieges kam – wie sich der wissenschaftliche Mitarbeiter in Yad Vashem Dr. Herbert Rosenkranz erinnert – vielen Menschen der Gedanke, ein nationales Institut in Israel zum Gedenken an die Juden zu errichten, die unter dem Naziregime umgekommen sind.
Yad Vashem ist bereits schon von den Menschen in den Ghettos konzipiert worden, es habe, so Rosenkranz, „dort Untergrundarchive gegeben, die aus aktiver Selbsthilfe in den besetzten Gebieten entstanden seien. Dies Material bildete die Grundlage von jüdischen Hilfs- und Rettungsorganisationen“. Sehr oft haben Widerstandskämpfer vor der Liquidation eines Ghettos Material gesammelt und geschaffen , in denen sie die Leiderfahrungen, aber auch den moralischen, geistigen, religiösen und wirtschaftlichen Widerstand festhielten. Diese Zeugnisse wurden vergraben, die Überlebenden brachten die Dokumente ans Licht und fuhren fort, wo der gewaltsame Tod dem ursprünglichen, Verfasser die Feder aus der Hand genommen hatte. Das größte Untergrundarchiv gab es in Warschau. Einen Teil dieser Sammlung findet man im Archiv von Yad Vashem, der umfassendsten Sammlung von Materialien über den Holocaust, die inzwischen aus mehr als 50 Millionen Einzeldokumenten besteht. Es enthält Material über den jüdischen Widerstand, über den der Partisanen im nazibesetzten Europa, zudem Akten über Organisationen sowie Einzelpersonen sowie eine Liste von Kriegs- und NS-Verbrechern.
Die Archive sind in drei Aufgabengebiete unterteilt, nämlich in Erwerb, Katalogisierung und Öffentlichkeitsarbeit. Auch Filme, Fotografien und persönliche Berichte wurden und werden dokumentiert; Historiker, Schriftsteller, Forscher und Studenten gehören zu den zahlreichen Nutznießern der Archive.
Verläßt man das Archiv- und Bibliotheksgebäude, bietet sich dem Blick die auf beiden Seiten des Weges mit Johannesbrotbäumen bewachsene „Allee der Gerechten“. Diese Bäume wurden von Nichtjuden gepflanzt, die „ihr Leben und das ihrer Familien gefährdeten, um jüdische Menschen zu retten“. Nach diesem Kriterium bewertet ein die Akten überprüfendes Komitee, ob die vorgeschlagene Person anerkannt werden könne. Jedoch geschieht in der Regel dies durch Zeugenaussagen geretteter Juden.
So steht hier sowohl ein Baum für den Heidelberger Pfarrer und Prälaten Hermann Maas, wie auch für Schindler, dessen „Liste“ derzeit gerade alle Kinobesucher-Rekorde bricht…
Jedoch sind es auch die zahlreichen Zeugnisse von kleinen, alltäglichen und – eigentlich – selbstverständlichen Hilfeleistungen, die freilich jene, die sie ausführten, das Leben hätten kosten können, die da unter dem Titel „Edle der Völker“ in Yad Vashem gesammelt und publiziert wurden: Franz Preisler, als Soldat der deutschen Wehrmacht in Polen stationiert, weigerte sich, dem Befehl, Juden zu erschießen, Gehorsam zu leisten. Er wurde von einem Kriegsgericht in Leipzig zur Haft im Lager Dachau verurteilt, wo er zum Blockleiter über jüdische Häftlinge eingesetzt wurde.
Im Dossier Nr. 189 des Yad Vashem Archivs berichtet Abraham Moskowitz hierüber: „Ende 1942 zwangen mich die Deutschen zur Arbeit in einer Garage in der Stadt Tiraspol in Transnistria. Von dort bin ich Anfang 1944 geflohen. In den Karpaten wurde ich gefaßt und nach Dachau eingeliefert. Dort lernte ich Franz Preisler kennen. Er war politischer Häftling und verantwortlich für meinen Block, er zeichnete sich durch sein tapferes Verhalten und durch seine Bereitschaft aus, anderen Häftlingen zu helfen. Einmal schlug mich ein Unteroffizier, ich wurde verwundet und in den Bunker geworfen. Als das Preisler erfahren hatte, holte er mich aus dem Bunker heraus, zerriß sein Hemd und verband mit dem Stoff meine Wunden“.
Von der Allee der Gerechten führt ein Weg zum historischen Museum. Dort zeigt eine ständige Ausstellung Dokumente zur Geschichte der Vernichtung des europäischen Judentums; Fotografien, Filme, Kopien von Schriftstücken und eine umfassende Diasammlung, die vom Leben im „Sch tetl“, den Synagogen, jüdischen Schulen, politischen und kulturellen Organisationen Kenntnis geben.
Nirgendwo in Israel haben Besucher aus Deutschland größere Probleme damit, aus diesem Land der Dichter und Denker – Tucholsky dichtete um in: „der Richter und Henker“ – zu kommen, als hier in Yad Vashem. Gespräche mit Besuchern der Ausstellung führen freilich auch hin zur Verquickung der Geschichte der Christenheit und der des Holocaust. Yad Vashem Mitarbeiter Herbert Rosenkranz betont, es könne bei Gesprächen miteinander nicht nur um die Beschreibung von Glaubensgegensätzen gehen. Vielmehr sei gleichzeitig und gleich intensiv nach der Verbindung von Glaube und Geschichte zu fragen. Jedoch habe – freut sich Rosenkranz – der Holocaust manche Christen zur Umkehr erwachen lassen. Die Errichtung des Staates Israel, damit die Rückenstärkung für die jüdische Diaspora und die Bereitschaft vieler seiner Bürger, in ein Gespräch einzutreten, waren die ergänzenden, positiven Voraussetzungen für das Zustandekommen mancher Dialogsituationen und Institutionen. Diese Gedenkstätte aber setzt vor den Dialog Betroffenheit, auch in Gruppen angekommene Besucher versuchen, alleine mit dem hier gezeigten fertig zu werden, sind hernach erst einmal kaum fähig, miteinander zu reden. Aus einer Gruppe deutscher Jugendlicher heraus fragt einer davon Herbert Rosenkranz, weshalb sich die Juden nicht gewehrt haben, warum sie sich wie Schafe haben zur Schlachtbank treiben lassen. Eine verständliche Frage, die aber die damalige Situation verkennt. Der Yad Vashem Mitarbeiter versucht eine Antwort, versucht zu erklären, es habe den deutschen Juden jede Voraussetzung gefehlt, sich kollektiv zur Wehr zu setzen. Vermutlich wäre das auch von einer jüdischen Gemeinschaft zuviel verlangt gewesen, die in ihrer Struktur bürgerlich und zudem politisch zersplittert war. Dennoch gab es natürlich Ausnahmen. So haben sich Widerstandskämpfer jüdischer Herkunft in der Organisation „Neu Beginnen“ oder in der Untergrundgruppe um Herbert Baum zusammengeschlossen, die am 18. Mai 1942 einen Brandanschlag auf die antisowjetische Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ unternahm – woraufhin 250 Juden in Berlin als Geiseln erschossen wurden. Auch dies ist in Yad Vashem belegt. Herbert Rosenkranz beklagt, „wenn wir heute von jüdischem Widerstand im NS-Staat sprechen, neigen wir dazu, als Widerstand nur anzuerkennen, was sich in der offenen Anwendung von Gewalt gegen die Staatsmacht zeigte“, also Attentate, Bombenanschläge, Sabotageakte. Aber schon gar nicht haben sich Juden dem bürgerlich-konservativen Widerstand angeschlossen. Stattdessen haben sie im organisierten antifaschistischen Untergrund gearbeitet. Ein Dokument in Yad Vashem belegt, warum das so war. Carl Friedrich Goerdelers berühmte Denkschriften, die Pläne für Deutschland nach Hitler konzipierten, sind von traditionellen machtpolitischen Ansprüchen, völkisch-nationalen Tönen und illiberalen Ressentiments geprägt. Heute ist weitgehend verdrängt, daß für den bürgerlichen Widerstand das Schicksal der Juden – wenn überhaupt – nur von marginaler Bedeutung gewesen ist. So gibt Herbert Rosenkranz einer Abteilung Yad Vashems besonderes Gewicht, die allerdings auch vermittelt, daß es dennoch vereinzelte Proteste und Beispiele individueller Hilfe gegeben habe, nicht aber die grundsätzliche Verurteilung des Antisemitismus und der nationalsozialistischen Judenpolitik. Die israelischen Jugendlichen sollen wachsam bleiben, bei der Abteilung mit besonderem Gewicht handelt es sich um die „Erziehungsabteilung“. Diese sei – so Herbert Rosenkranz – „danach ausgerichtet, den Sabres, den im Lande geborenen, die aufwuchsen im Geiste des Widerstandes gegen sie ausgeübter Gewalt, das Phänomen eines scheinbar wehrlosen Massensterbens des europäischen Judentums verständlich zu machen“.
Ganz deutlich vermittelt Yad Vashem den jungen Israelis (und natürlich den zahlreichen Besuchern aus dem Ausland), daß die Zeit vorbei ist, da Juden stets politisch abhängig waren: Nach der Deportation nach Babylon, nach der Rückkehr nach Palästina, als Theokratie im politischen Gehorsam der Weltmacht erst der Perser, dann der hellenistischen Herrscher, dann der Römer. Nachdem die Juden – nicht nur in der Zeit des Holocaust und nicht nur in Deutschland – politisch indifferent geworden waren und sich in die Gewalt jener Staaten, in denen sie wehrlos lebten, fügten, heißt die neue Hoffnung – und auch dies vermittelt Yad Vashem – heute längst nicht mehr nur Verheißung. Jene der Propheten nämlich, die zwar alles Unheil vorausgesagt und recht behalten hatten. Die Juden in den Ghettos lebten aber auch in der Sicherheit, die Propheten würden recht behalten mit der anderen Voraussage, ein Rest von ihnen würde fortbestehen nach der Verheißung Gottes.
Versöhnung muß auf ihre Zeit warten, sie darf nicht Verdrängung sein. Versöhnung muß Verdrängung überwinden. Yad Vashem mit allen Instituten, Archiven, Mahnmalen-, aber auch alle Mitarbeiter versuchen, Versöhnung mit der grausamen Wahrheit des Holocaust zu erreichen. Dieser Versöhnung mit der Wahrheit entspricht man am ehesten durch die Bereitschaft zur Aufklärung. Und genau das tut Yad Vashem, das tut diese Gedenkstätte für Holocaust und Heldentum in Israel. Vergangenheit ragt deshalb noch so sichtbar in unsere Gegenwart, weil Wiedergutmachung für die Schuld des Holocaust nicht möglich ist. Die bleibt unabgegolten und uneingelöst. In unserer Vergangenheit begegnet uns ein Ausmaß an geschichtlicher Schuld, das – mit nochsoviel Gnade später Geburt – niemand zu tragen, für das niemand aufzukommen vermag. Der Wiedergutmachung für diese Schuld entspricht allein die Bitte um Vergebung, das Bekenntnis zur Versöhnung. Yad Vashem mag für noch viele kommenden Generationen ein möglicher Weg sein, das zu begreifen. Wir Christen aber machen es uns zu leicht, wenn wir meinen, das Unsere mit christlich-jüdischen Religionsgesprächen schon dazu beigetragen zu haben. Wir hätten – wie das gerade der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands Engelhardt im Ansatz eingestanden hat – eine Christologie zu suchen und zu entwickeln, die nicht – wie sie das ist – sich von Anbeginn konstitutiv antijüdisch gibt.

Jürgen Gottschling.

Das Gedenkmal für die Opfer der Vernichtungslager – eine eindrucksvolle Stacheldraht darstellende Stahlskulptur, in welchem Menschen verstrickt sind. Ganz in der Nähe aber ragt – umgeben von grauen, Zerstörung symbolisierenden Betonblöcken – die Säule des Heldentums himmelwärts. Die Inschrift lautet: „Jetzt und für alle Zeiten – zur Erinnerung an die Aufständischen in den Lagern, an die Partisanen in den Wäldern, die Widerstandskämpfer und Soldaten der Alliierten Armeen, an die, die ihren Weg nach Eretz Israel erzwangen und an diejenigen, die den Namen Gottes heiligend ihr Leben hingaben“.

Sep. 2007 | Allgemein | Kommentieren