Jahrzehntelang trat der Chef der Bundesanstalt für Arbeit allmonatlich vor die Presse, mit Sorgenfalten auf der Stirn. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, die Verbindung zwischen „Lohn“ und „Brot“ und die Wettervorhersage am Ende der „Tagesschau“. Josef Stingl, Heinrich Franke und Bernhard Jagoda, aber nicht mehr Florian Gerster, waren Gesichter einer Republik, die eine Vorstellung davon hatte, was „Arbeit“ eigentlich war.
Tritt heutzutage Frank-Jürgen Weise vor die Presse, liegen die Dinge gleich komplizierter – ein unorganisierter Haufen aus Selbstunternehmern, Freiberuflern und Scheinselbständigen sieht zu. Weise steht auch keiner „Anstalt“ mehr vor, sondern einer „Agentur“, er ist kein in Würde ergrauter „Präsident“, sondern ein dynamischer „Vorstandsvorsitzender“, und die Nachrichten, die er hat, vereinen das Land nicht in Sorge, sondern vereinzeln es in Unsicherheit selbst dann, wenn diese Nachrichten gut sind. Denn was ist von einem Aufschwung zu halten, der an den Langzeitarbeitslosen vorbeigeht, den aber gleichzeitig ein Fachkräftemangel bremst? Und in was für einer „Positiv-Spirale“, wie Franz Müntefering sagt, wird einem hier der Kopf verdreht, wenn sich ein Viertel der neuen Jobs der Zeitarbeit verdankt, diesem in Deutschland mißtrauisch beäugten Phänomen? Wie sehr muß es ein Land, das sein Nachkriegsselbstbewußtsein zu einem guten Teil aus seiner Hände Arbeit schöpfte, erschüttern, wenn „Arbeit“ keine feste Größe mehr ist, sondern der Motor eines gesellschaftlichen Drifts?
Soziologen sorgen sich um zweierlei. Einmal fürchten sie die sogenannt „arbeitsarme“ Gesellschaft, die, weil die Werktätigkeit sich als Hochleistungssport entpuppt, schlicht nicht mehr alle beschäftigen, das heißt: gebrauchen, kann; zum anderen sorgen sie sich darum, dass die Arbeit ihre Kraft verliert, Individuum und Gesellschaft zusammenzuhalten. Die Entwicklung ist nicht neu, nur wird sie ausgerechnet im Aufschwung unübersehbar. „Das Ende der Arbeit“ nannte Jeremy Rifkin seine vor mehr als zehn Jahren erschienene Studie, die einen früher oder später aufs „Bürgergeld“ bringt und protestantischen Arbeitsethikern deshalb die Schauer im Dutzend über den Rücken jagt; „Der flexible Mensch“ wiederum ist Richard Sennets, 1998 erschienenes Gegenstück, betitelt, die Bibel der zwischen Erschrecken und Euphorie schwankenden Theoretiker des Drift. Keine oder eine andere Arbeit, lautet die Alternative – bestimmt nicht für alle, aber für viele. Tony Blair, ein pragmatischer Linker, auch wenn die Linke das nicht wahrhaben will, hat seine Arbeitspartei rechtzeitig umbenannt: „New Labour“ – weil „labour“, „Arbeit“, eben nicht mehr ist, was sie mal war. Neudeutsch gesagt: der „company man“, der für „die Firma“ lebt, ist out; „from nine to five“ war vorgestern.
Die Umwälzung ist epochal. Henry Ford, Genius einer schweren Moderne aus Stahl, der Geschichte für „Quatsch“ hielt, ist jetzt selbst Geschichte – eine Figur jenseits des Epochenbruchs der digitalen Revolution, die dem „Kapital“, wie die Soziologen immer noch sagen, Beine gemacht hat. Ford zahlte seinen Arbeitern doppelten Lohn, um sie an seine fest gefügte Fabrik zu binden – Fords Erben hingegen setzen auf Kundenbindung, ihr Verbündeter ist der Konsument, dessen Produktivkraft gerade erst entdeckt wird: bei Ikea, wo er Möbel schraubt, oder im Internet, wo er unentgeltlich preisgibt, was er alles weiß. Sogar die alte Arbeitsteilung geht nach und nach zum Teufel – man macht ja auch lieber wieder selber, im Kräutergarten oder beim Hausbau, man weiß ja nie so recht, was wird.
„Wir nennen es Arbeit“, nannte sich neulich das Pamphlet einer digitalen Bohème, die noch einmal den Traum vom selbstbestimmten Leben träumt, ein Walden Pont aus Pixeln sozusagen. Das ist nicht frei von trotziger Ironie und Galgenhumor – von Autonomie und Selbstbestimmung nämlich träumt es sich in Zeiten der Festanstellung allemal leichter. Deutschlands kleine Kulturrevolution der Sechzigerjahre jedenfalls war wohl auch aus dem Geist der Vollbeschäftigung geboren. Damals lernten die Kinder in den Kindergärten bitteschön gar nichts, heute lernen sie dort Businessspeak, notfalls in privater Initiative.
Die, wie der Soziologe Zygmunt Baumann höhnt, mit „Zeitverträgen, Kettenverträgen, gar keinen Verträgen und unbestimmten ‚Bis-auf-Weiteres‘-Vereinbarungen“ ausgerüsteten Generationen Golf (die den robusten Käfer erst fahren durfte, als der schon eine Klapperkiste war) oder Praktikum (deren Existenz so unsicher ist, dass es sie womöglich gar nicht gibt) müssen sich ihre Sicherheit heute anderswo suchen – in der Arbeit allein, in der Karriere gar, dieser bürgerlichen Verheißung, werden sie sie nicht finden. Die Folge – in schöner Umkehrung der Ereignisse von anno ’68: der Versuch einer kleinen Kulturrestauration.
Als Richard Sennett auszog, die postmoderne Arbeitswelt zu erkunden, begegnete er einem dezidiert werteorientierten jungen Mann, seines Zeichens „Berater“, mal hier und mal dort. Sinnigerweise traf man sich in einem Flugzeug. Der junge Mann sprach lang und breit über seine Familie, über „Verpflichtung, Verläßlichkeit, Loyalität und Zielstrebigkeit“. Der Kulturkonservatismus, zu dem dieser junge Mann sich bekenne allerdings, urteilte Sennett nachher, sei bloß „eine Art Testament der Kohärenz, die er in seinem Leben vermißt.“
Manchmal stimmen eben selbst gute Nachrichten nostalgisch. Denn Arbeit, das war doch einmal die abgewetzte Ledertasche mit der Thermoskanne und dem Henkelmann, das war das Schlagen der Autotür um Punkt acht in der Früh, das war die ewigselbe Busfahrt ins Büro. „Schuster du, Schuster du, flick‘ mir meine Schuh“, sangen damals die Kinder. Sie singen es noch. In ihren kleinen Mündern jedoch klingt es so unvertraut wie das gefährlich vielstimmige „Frère Jacques“, das sie nicht wirklich verstehen. Jeder Abschied ist ein kleiner Tod. Gibt es eigentlich Kinderlieder über Franchisenehmer? got