Hannah Arendt lernte Walter Benjamin, den Cousin ihres ersten Ehemannes, in den Jahren der Emigration in Paris kennen und teilte als enge Freundin seine letzten Lebensjahre. Sie wurde Zeugin seiner unablässigen Arbeit, seiner Verzweiflung über seine finanzielle Lage und über seine Abhängigkeit vom Institut für Sozialforschung, das ihn von New York aus zu unterhalten suchte. Als Arendt 1940 in Marseille mit ihrem zweiten Mann ihre Ausreisepapiere für die USA erwartete, musste Benjamin sich der Datierung seines Visums wegen ohne die beiden auf den Weg über die Pyrenäen machen – ein Weg, der sein Ende bedeutete. Ein Typoskript der berühmten geschichtsphilosophischen Thesen, das Benjamin ihr überlassen hatte, konnte Arendt in die USA retten.
Mit seinem Ende erwies sich das Ungeschick, von dem Benjamin sich von jeher angeblickt fühlte, als tödliches Missgeschick. – Hannah Arendt stellte sein Leben unter dieses Thema, als sie das Profil des verlorenen Denkers und Freundes 1968 in einem grossartigen Essay vergegenwärtigte. Sie hatte in den USA vergeblich versucht, eine Ausgabe seiner Schriften in die Wege zu leiten, eine zweibändige Ausgabe wurde erst 1955 von Theodor W. und Gretel Adorno bei Suhrkamp realisiert. Mit ihrem Essay in der Zeitschrift «Merkur» geriet Arendt in Deutschland in ein Wespennest, nämlich unter geistige Erbwalter Benjamins, die gerade angefangen hatten, Adorno und dem Institut ihren Umgang mit dem nicht auf Linie zu bringenden Autor vorzuwerfen.
Aus der Distanz fällt die Klarheit und Souveränität ins Auge, mit der Arendt in dieser Situation Benjamins Profil zeichnet. Wenn sie seine Freundschaft mit Brecht gegen Adornos und Scholems Verdrossenheit verteidigt, dann nicht, um Benjamin für den historischen Materialismus zu vereinnahmen, sondern um darauf aufmerksam zu machen, dass er ein dichterischer Denker, ein literarischer Kritiker und «Perlentaucher» weit eher war als ein Philosoph. (Auch sie selbst verwahrte sich ja gegen diesen Titel.) Damit scheint sie beim Vortrag in Freiburg i. Br., zu dem Heidegger sie eingeladen hatte, mehr Verständnis gefunden zu haben als bei Benjamins ehemaligen Gönnern. «Benjamin kein Philosoph!?», hört man Adorno empört ausrufen; und Scholem hatte nun von Arendts «Frechheit» endgültig genug.
Die sorgfältige Zusammenstellung macht es möglich, diese Geschichte in teilweise unveröffentlichten Briefen und Dokumenten nachzuvollziehen, und ergänzt den Abdruck des Arendtschen Essays von 1968 mit Faksimile und Transkription der besagten ersten Fassung der geschichtsphilosophischen Thesen (Benjamin hatte sie auf Streifbänder von Zeitungen getippt) mit einem informativen Vorwort und einer Zeittafel.
Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente. Herausgegeben von Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2006. 210 S.