Der Louvre feiert den griechischen Bildhauer Praxiteles. Er war einer der größten Künstler der Antike.
Eine große Ausstellung mit lauter Kopien – das kommt nicht alle Tage vor. Aber der Louvre hatte keine andere Wahl: Praxiteles ist zwar ein Gipfel der antiken Kunstgeschichte, doch seine Werke sind verschollen. Oft genug wurden sie von frühen Christen zerstört, die an der heidnischen Sinneslust Anstoß nahmen. Selbst der 1877 von deutschen Archäologen ausgegrabene Hermes in Olympia, der lange als das einzige gesicherte Original galt, ist von Zweifeln umweht.
Den größten Skandal erregte die Venus von Knidos, die älteste lebensgroße weibliche Skulptur, die sich so präsentiert, wie die Natur sie schuf. Die Stadtväter von Kos auf der gleichnamigen Insel, die die Liebesgöttin bestellt hatten, waren entsetzt, als der Künstler eine nackte Dame ablieferte. Um sie zu beschwichtigen, schuf er eine zweite, bekleidete Fassung – wie es Goya später mit seiner Maja tat. Das nackte Original wurde von der Stadt Knidos erworben, wo es Scharen von Touristen anzog. Nicht wenige Besucher wurden, wenn wir der Überlieferung glauben wollen, bei ihrem Anblick von einem wahren Sinnenrausch überwältigt. Der König von Bithynien erbot sich, alle Schulden der Stadt zu begleichen, wenn sie ihm die Statue ablasse. Anders als Alberich wies Knidos das Gold zurück und blieb bei der Liebe.
Der Ruhm des Praxiteles war schon in der Antike so groß, dass die Nachfrage das Angebot weit überstieg. Kopisten sprangen in die Bresche und versorgten die römische Oberschicht mit Duplikaten. Ihnen ist es zu danken, dass die Ausstellung – die erste überhaupt, die dem Bildhauer gewidmet ist – zustande kam. Der Louvre hat herrliche Stücke aus Athen, den vatikanischen Sammlungen, den Uffizien, dem British Museum und nicht zuletzt aus eigenen Beständen zusammengetragen. Auf den Apollon Sauroktonos, den „Eidechsentöter“, eine Bronzeplastik aus Cleveland, die vielleicht sogar von Praxiteles selbst stammt, musste er freilich verzichten. Der Archäologische Rat in Athen hatte die Amerikaner beschuldigt, das Werk auf krummen Wegen erworben zu haben:
Es sei bei einer illegalen Tauchaktion im Ionischen Meer gehoben worden. Man werde nicht an einer Ausstellung teilnehmen, drohten die Griechen, bei der Schwarzmarkt-Antiquitäten „gewaschen“ würden. Zwar bestritten die Amerikaner die Vorwürfe, doch der Louvre wollte es sich nicht mit Athen verderben. Statt des bronzenen Eidechsentöters sind zwei Marmorfassungen zu besichtigen.
Der Apollo repräsentiert – ebenso wie die Satyrn, Eroten und anderen Epheben der Ausstellung – die neue Männlichkeit, die Praxiteles zum Ideal erhob. Die muskelstrotzenden Athleten früherer Generationen ersetzte er durch schlanke, zartgliedrige, manchmal ausgesprochen feminine Jünglinge, die lässig an Bäumen lehnen, verführerisch lächeln oder versonnen vor sich hin blicken. Diese Götter haben nichts Jenseitiges oder gar Furchteinflößendes: Sie sind ebenso menschlich wie die Liebesabenteuer, die die Legende ihnen zuschreibt. Kein Wunder, dass sich spätere Generationen von Bildhauern gern von ihnen inspirieren ließen. Die Ausstellung zeigt Beispiele des „Praxitelismus“ bis in 19. Jahrhundert hinein. Manche wurden mit gefälschten Signaturen dem Meister selbst untergeschoben.
Persönlich gab Praxiteles Frauen den Vorzug. Seine Geliebte und sein berühmtestes Modell – vielleicht auch für die Venus von Knidos – war Phryne, Athens berühmteste Hetäre, eine geistreiche Frau, die sich ihre Liebesdienste fürstlich bezahlen ließ. Zeitgenossen rühmten nicht nur ihre Schönheit, sondern auch ihre Zurückhaltung: Anders als ihre Kolleginnen verschmähte sie es, ihre Kundschaft in den Bädern zu suchen. Als Phryne wegen Asebie (Gottlosigkeit) angeklagt wurde, verteidigte sie sich so geschickt, dass das Gericht sie freisprach. Ein Gemälde des Salonmalers Jean-Léon Gérôme, das der Louvre aus Hamburg herangeschafft hat, zeigt den wohlberechneten, die Richterrunde überrumpelnden Höhepunkt ihres Plädoyers: Die Angeklagte lässt ihre Hüllen fallen.
Die Ausstellung wartet mit zwei Überraschungen auf: Ein monumentaler Frauenkopf aus Marmor und ein 1997 und 1998 in zwei Teilen vor der Küste Siziliens gefundener Bronze-Satyr sollen von Praxiteles selbst stammen. Der Kopf soll zu der in antiken Schriften erwähnten Artemis-Figur gehören, die bisher mit einer nachchristlichen Kopie, der sogenannten Diana von Gabies, identifiziert wurde. Sollte sich diese neue Deutung unter den Archäologen durchsetzen, würde dies unser Bild von Praxiteles nicht unerheblich verschieben: Der Kopf hat nichts von der verträumten Grazie, die wir mit seinem Namen verbinden. Aber hier ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen.
Ohnehin müssen wir uns an den Gedanken gewöhnen, dass der klassisch weiße Marmor ursprünglich in lebhaften Farben bemalt war. Praxiteles selbst hielt die größten Stücke auf diejenigen seiner Werke, bei denen ihm der Maler Nikias zur Hand gegangen war. Das Verblassen der Farben hat zu dem gipsernen Bild der Antike geführt, das wir vor allem Winckelmann verdanken. Die „edle Einfalt und stille Größe“, die er und Generationen von Gymnasiallehrern nach ihm entdeckt zu haben glaubten, hatten mit der griechischen Wirklichkeit nichts zu tun.