David Harrowers „Blackbird“ als Seelenstrip zweier großartiger Schauspieler. Virtuos genau choreographiert in der Regie von Ute Richter im Heidelberger Zimmertheater als heißes
Wechselbad der Gefühle.
„Blackbird“ macht nachdenklich und erschreckt, diese Produktion weckt Emotionen, erschüttert bequeme Denkmuster und macht Angst. Vor 13 Jahren waren zwei Menschen aufeinander getroffen, waren schutzlos geworden, nichts mehr war an seinem ursprünglichen Platz, die Formen ihrer eigenen Leere symbolisierte sich im sexuellen Akt, ohne Ahnung von allem, dem sie sich – damit – ausgeliefert hatten. Ein Mädchen,
Kind noch, damals 12 Jahre alt und ein 38jähriger Mann verstrickten sich in eine wechselseitige, von außen wenig zu begreifende Beziehung, die aber dennoch und von beiden gewollt, Tiefe und Leidenschaft einer wechselseitigen Bindung suchte. Und eben daran scheiterte diese Beziehung, scheiterte mit einem Akt totalitären Liebesanspruchs, einer Neigung in der Verschmelzung von Eros und Thanatos, von Liebe und Tod.
Das Stück bietet auch andere Antworten: tiefgründende, oft bleiern-schonungslose, aber auch hoffnungsvolle; immer sehr persönliche, oft schwer zu verdauende. Jedoch hat man verstanden zu haben, daß es für jeden danach Suchenden andere Versionen sind, andere sein müssen. Es agieren ja auch mindestens zwei Wahrheiten auf der Bühne.
Harrower schrieb sich mit Blackbird ein Stück vom Leib, das Leid als Produkt von Schuld gebiert. Der hebräische Mythos aber, nach dem Adam und Eva die Menschheit dazu verurteilt haben sollen, mit Schmerzen zu gebären und sich im Schweiße ihres Angesichts abzurackern, weil sie ihren Genuß im Spiel mit dem Apfel und der Schlange auskosteten, hat zwar Generationen von Freidenkern belustigt, bevor Harrower das hier zu einer Wirklichkeit zusammengeschrumpfen läßt, die keinen mehr so richtig zum Lachen bringen möchte.
Mag nämlich sein, Adam im Paradies war achtunddreißig, dann war aber Eva nicht zwölf. Und so läßt sich auch nicht darstellen, es gäbe kein Leid, das nicht auf einer ursprünglichen Aggression folgte, die dann zynisch als eine Wirkung u n s e r e r Schuld dargestellt wird.
Blackbird verbindet im Geist eines verbindendenden Spiels Normen und Spielregeln, läßt Liebe zu Beginn einen Urknall sein, der die durch Jahre aufgerichteten Schranken eingezäunter Anschauung und gedämpfter Gefühle mit plötzlichem Druck von innen nach außen niederfegt und rundherum in wellenförmig pulsierender Ausbreitung den offenen Horizont erschließt.
Ute Richters Regiekonzept führt die beiden Protagonisten bewußt – trotz gelegentlicher Rückzugsgefechte – nach und nach zu einer neuen Grundhaltung, läßt sie zu ihrer erlebten und verdrängten erotischen Einstellung gelangen, womit leichter verstehbar gemacht ist, daß damit ein Vorhang gelüftet, eine Wand durchgestoßen, eine Mauer gesprengt worden war, daß sich unwandelbare Vorstellungen in bloße Perspektiven verwandeln, daß sakrosankte Normen spielerisch von allen Seiten betatstet werden, bis sie unter den Händen zerbröckeln und an ihrer Stelle neue, der damaligen Situation gemäßere, aber eben gleichwohl wieder vorläufige Normen entstehen. Liebe, das haben wir zur Antwort, schafft immer und immer wieder unvorhergesehene, neue Knoten.
Harrower läßt solche verknüpften Handlungsstränge als Norm, als das kollektiv Vorgesehene und Vorgeschriebene einherkommen, das als das von vielen einzelnen uniform Erwartete. Norm will in Blackbird aber das Gegebene bewahren, derweil die Liebe das Gegebene sprengt. Liebe wäre insofern, als sie alles Normative außer Kraft setzt, ja per se schon anormal. Daß das aber nicht heißen muß, daß, um lieben zu können, auch Gesetze überschritten werden dürfen, ist auch eine der Antworten des Stückes. Wenn Lieben und Befreien zwar dasselbe meinen, so läßt Blackbird nicht zu, daß das Tabu „Sex zwischen Erwachsenem und Kind“ ungestraft gebrochen werde. Ray jedenfalls war schließlich im Knast gelandet.
Jetzt nun also hat Una Ray aufgespürt und will von ihm eine Antwort auf ihre Fragen: Hatte sie sich damals in ihren Gefühlen geirrt? War sie, wie es ihr andere später erklärten, nur naiv und zu etwas gezwungen worden? Und hatte Ray sie tatsächlich geliebt? Was sie seitdem durchgemacht hat – kann er das auch nur ahnen? Und wie ist sein Leben nach Prozeß und Gefängnis verlaufen? Hatte er Beziehungen zu anderen Frauen? Und wie alt waren dann die?
„Take these broken wings and learn to fly“ – daß daraus knisternde Spannung mit einem unter die Haut gehenden Schlagabtausch zweier Figuren mit gebrochenen Flügeln wie in dem Namengebenden „Beatles“-Song zu werden vermochte, darf den beiden hervorragenden Schauspielern gedankt sein: Besetzt mit Katrin Brockmann und Harald Heinz – zwei großartigen Schauspielern auf gleicher Augenhöhe. Ein Duell auf Augenhöhe aber auch mit dem über eine Stunde gebannten Publikum, das von der ungeheuren Präsenz der beiden Protagonisten hin- und hergerissen wird in einem Wechselbad der Gefühle.
Welche Bilder aber haben sich über die Gefühle des Vergangenen gelegt? Sind es klare, erklärende oder falsche, verwischende? Zwei aneinandergekettete Vereinzelte ringen mit ihren Traumata. Eine rasende Achterbahnfahrt aus Abstoßung und Annäherung, Aggression und Neigung – dazu immerfort umgeben von Kantinenmüll, als der äußeren Entsprechung ihrer innerer Verfaßtheit.
Die beiden befinden sich in einem ständigen Prozeß, der, in ihren Monologen und Dialogen erst sich offenbart, ja wie ein Mahlstrom, ein Strudel, immer tiefer wird und alles in sich zieht. Und jedes Wort, das hier ins Leere geht, dem kein Hören und Antworten entspricht, ist furchtbar. Und schlägt zerstörend auf den Redenden zurück. Ute Richter seziert messerscharf aus dem Text, die beiden Protagonisten weben und leben daraus in der Tat einen Psychokrimi. Hier ist eine wunderbare Symbiose enstanden zwischen Autor, Regie und den Spielern. Die (auch von Ute Richter gestaltete) Bühne nicht zu vergessen, die einen schlüssig-tristen Rahmen abgibt für Seelenmüll und abgegessenes Leben.
Jürgen Gottschling