Jede Menge Abendrot. Dabei geht es um Kinder und nun gar um etwas so Denkwürdiges wie die „Entdeckung der Kindheit“. Wer den Katalog liest, wird darüber informiert, wie die Gesellschaftskritik der Aufklärung die Kindheit als einen Naturzustand entdeckte, den es zu zivilisieren, den es in seiner Freiheit aber auch zu stärken galt.
Man kann mit dieser Brille bewaffnet durch die Ausstellung gehen und sich ansehen, wo es mehr um die Zivilisierung und wo es mehr um die Freiheit geht. Die neben den Bildern angebrachten Erläuterungen unterstützen diese Art der Lektüre.
Anthonis Van Dycks 1625-1627 in Genua entstandenes Porträt der drei Balbi Kinder – vielleicht sind es die Söhne des Gerolamo De Franchi – sind Lichtjahre entfernt von der Idee der Freiheit. Sie sind auch als Kinder schon fest verortet in der Hierarchie. Das Porträt der dreijährigen Erzherzogin Maria Theresia, das Moritz Michael Daffinger 1819 malte, ist das andere Extrem der Ausstellung. Es ist eine Replik des Porträts des Mädchens von Thomas Lawrence. Die spätere Königin von Neapel sitzt auf dem Boden und zieht an den Schnürsenkeln ihrer Schuhe. Sie ist ein Kind in einem kostbaren Kleidchen, aber ihr gesellschaftlicher Rang spielt keine Rolle. Ihr Reiz ist ihre offene Kindlichkeit.
Abendrot in mildem Licht
Wer den Katalog und die Texte nicht beachtet, dem fallen in dieser Ausstellung ganz andere Dinge auf. Eben das Abendrot. nach einer Weile versteht der Betrachter, warum die Kleinen immer wieder in das milde Licht der scheidenden Sonne getaucht werden. Weit wichtiger als die gesellschaftlichen Fragen, die ja noch mehr solche der Etikette als der Soziologie waren, scheinen den Künstlern die roten Wangen der Kinder gewesen zu sein. Das 18. Jahrhundert liebte Rosé auf Weiß. Es liebte es bei Frauen und Männern, bei Göttern und Helden. Nirgends aber in der Natur ist diese Kombination ergreifender, herzerwärmender – sagen wir es wie es ist: – kitschiger zu haben als beim Menschenkind. Zartestes Rosa auf weißer Milchhaut – das ist der Rokokotraum.
Es ist einer jener Träume, den die Epoche zusammen mit den Ideen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit weitergereicht hat an spätere Zeiten. Das macht diese Ausstellung deutlich. Sie zeigt den Anfang des Siegeszuges von Rotbäckchen. Der Liebreiz – ein fast vergessenes Wort aus eben dieser Zeit – von Rosa auf Weiß und der sie zur Geltung bringenden Sujets wurde damals vielleicht nicht entdeckt, aber Reynolds, Gainsborough und Lawrence bildeten doch die Initialzündung für einen Prozess, der diese Motive und die Art ihrer Präsentation einer bürgerlichen Moderne vererbte, die sie über den ganzen Globus trug und sie in immer neuen Trivialisierungen bis in die kreischende Welt der Reklame torpedierte.
Die 1823 entstandenen Calmady-Kinder von Thomas Lawrence gehörten zu den meistko- pierten Bildern des 19. Jahrhunderts. So ganz unschuldig wie auch diese Ausstellung dieses Bild zeigt, kann man es heute freilich in Wahr- heit nicht mehr sehen. Die geöffneten Schenkel der fünfjährigen Emily, zwischen denen ein weißer Stoff sich ballt und der kokette von Wimperntusche beschwerte Augenaufschlag der siebenjährigen Anne, deren Lippen sorgfältig gerötet wurden – das alles ist zu sehr inszeniert, zu offensichtlich für den Blick des Betrachters arrangiert.
Man wird Abschied nehmen müssen von der Unschuldsvermutung. Die Kinder – wir wissen das nicht – mögen unschuldig gewesen sein. Die Maler und das Publikum war es nicht. Es genoss die Blößen und die Verletzlichkeit der Haut. Sie feierte in der verlogen gesteigerten Unschuld der Kinder ihre eigene Verworfenheit.
Friedrich von Amerlings 1830 entstandener lasziver Fischerknabe ist ein weiteres Beispiel.
Wer diese Brille aufsetzt, dem sagt diese Ausstellung viel über das ausbeuterische Verhältnis der Kunst und ihrer Konsumenten zur kindlichen Erotik wie zur kindlichen Sexualität. Es ist auf fast jedem Bild anders. Diesen Unterschieden nachspüren zu können, macht einen Hauptreiz der Ausstellung aus. Die Selbstverständlichkeit, mit der Angelika Kauffmann die elfjährige Laura Pulteney als kleine Hofdame mit Dekolletee zeigt, scheint die Selbstverständlichkeit abzubilden, mit der die Elfjährige die Hofdame gab. Die anzügliche Infamie, mit der Franz Xaver Winterhalter im Jahre 1849, den fünfjährigen Sohn der Königin Victoria, Prinz Alfred, die gespreizten von einem Schottenröckchen bedeckten Schenkel – man möchte sagen – in die Kamera halten lässt, würde heute die Kinderschützer auf den Plan rufen. Als Gürtel dient ein Dachsfell. Über dem Geschlecht des Jungen liegt der Kopf des Tieres, dessen rote Zunge herausleckt. Dass der junge den Betrachter beim Betrachten anschaut, macht die Szene nicht unschuldiger. Was man sich unter einem Frechdachs vorzustellen hat, macht einem dieses Bild klar.
Städel Museum, Frankfurt, Schaumainkai 63, bis 15. Juli. Katalog (DuMont) 29,90 Euro. www.staedelmuseum.de