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Wer die Initiative zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ mehr als gar nicht analysiert, erkennt schon in der Zusammenfassung einzelner Wissenschaften zum Kollektiv eine Geste der Herablassung: „Warum hat man nicht das Jahr der Germanistik, der Kunstgeschichte, der Theologie oder das der Klassischen Philologie proklamiert? Warum hat man den Philologien oder den Geschichtswissenschaften keine separate Auszeichnung gewährt? Sind sie nicht groß, reich und interessant genug, um sich neben einem Fach wie der Physik oder neben den Geowissenschaften sehen lassen zu können?

Inszenierte Erinnerung.
Der Mensch hat sich noch nie damit begnügt, die Feste so zu feiern, wie sie fallen. Mit dem Autoritätsverlust des Heiligenkalenders und der kirchlichen Feiertage haben sich die westlichen Gesellschaften mit Fleiß daran gemacht, neue Gedenk- und Festtage zu erfinden. Wer will, mag darin das Säurebad der Säkularisierung sehen; eine politische Theologie läßt sich daraus dennoch nicht gewinnen. Schon die griechischen Mutterstädte haben ihren Kolonien neben der Verfassung eine Festordnung auferlegt. Für die Neugründung Magnesia hat Platon eine große Zahl von Feiertagen im Jahr empfohlen, die nicht nur den Göttern, sondern auch der Freundschaft der Bürger dienen sollten. Man kann auch unabhängig vom religiösen Kultus wissen, daß Menschen ihren Sinn nicht nur in der Arbeit, sondern auch in der Ablenkung finden.
Bei den Feiertagen der Moderne standen zunächst die nationalen Anlässe der Befreiung, der Staatsgründung oder der Volkstrauer im Vordergrund, dann kam die politische Anerkennung allgemeiner sozialer Leistungen hinzu, die uns den Tag der Arbeit oder den Muttertag bescherten. Da man inzwischen errechnen kann, wie groß die Umsatzeinbußen einer Volkswirtschaft allein dadurch sind, daß an den Feiertagen nicht gearbeitet wird, werden die meisten der neuen Festtage nur noch symbolisch zelebriert. In einigen Fällen genügt es, sie konsumwirksam zu proklamieren. So kann man am Valentinstag ungehindert arbeiten, wenn man vorher der oder dem Geliebten einen Blumenstrauß hinterlassen hat. Am Weltspartag, am Tag des Waldes, des Kindes oder in der Woche der Brüderlichkeit ist man gar zu gar nichts mehr verpflichtet.
Nur weil die Festtage der neuen Art so unverbindlich sind, kann man sich den Übergang vom Feiertag zum Gedenk-Jahr leisten. Damit eröffnet man den Medien und ihrer Didaktik ein weites Feld. Die inszenierte Erinnerung dringt nicht nur von Bildschirmen und aus Lautsprechern auf den Konsumenten ein, sie springt ihn auch von Hauswänden an, holt ihn durch »offene Türen« von der Straße und setzt ihm in »langen Nächten« zu. Den mehrere Hunderttausend Euro teuren »Einsteinbus«, der im »Einsteinjahr« die Relativitätstheorie von einer Haltestelle zur anderen fahren sollte, brauchte ja niemand zu besteigen. Aber dem »Mozartjahr« konnte nur entkommen, wer konsequent auf Radio und Fernsehen verzichtete. Wem dies nicht gelang, der mußte die Erfahrung machen, daß einem auch ein Genie lästig werden kann.

Jähe Kollektivierung.

2007 ist das »Jahr der Geisteswissenschaften«. Nach der Physik, der Biologie, der Chemie und der Informatik sind nunmehr die Geisteswissenschaften an der Reihe. Die Abfolge sollte stutzig machen. Warum plötzlich »Geisteswissenschaften«? Die hätte man erwartet, wenn vorher den »Natur-« oder den »Sozialwissenschaften« ein Jahr gewidmet worden wäre. Gewiß, 2004 war das »Jahr der Technik«, 2002 hat man die »Geowissenschaften« geehrt und 2001 konnten sich Biologie und Physiologie unter dem Titel der »Lebenswissenschaften« präsentieren. Aber das war ein Euphemismus. Bis heute sind die fächerübergreifenden »Lebenswissenschaften« eher ein Projekt als eine Realität.

Also gilt, daß man der Sache nach stets einzelnen Disziplinen oder engen Fächergruppen die Ehre gegeben hat. Deshalb liegt die Frage nahe, warum jetzt ein Kollektiv gefeiert wird. Warum hat man nicht das Jahr der Germanistik, der Kunstgeschichte, der Theologie oder das der Klassischen Philologie proklamiert? Warum hat man den Philologien oder den Geschichtswissenschaften keine separate Auszeichnung gewährt? Sind sie nicht groß, reich und interessant genug, um sich neben einem Fach wie der Physik oder neben den Geowissenschaften sehen lassen zu können?
Das sind natürlich rhetorische Fragen. Die einzelnen Geisteswissenschaften scheinen den Geschäftsträgern der Wissenschaft so wenig aufzufallen, daß man ihnen nur noch im Kollektiv Aufmerksamkeit zu schenken vermag. Wer heute kenntlich machen möchte, daß ihm die Förderung der Wissenschaften ein kulturelles Anliegen ist, der spricht deshalb noch lange nicht von einer Literatur-, von der Musik-, Theater- oder Filmwissenschaft, sondern er apostrophiert die in besseren Zeiten mit Orchideen verglichenen »kleinen Fächer«, und wenn es hoch kommt, spricht er von »den« Geisteswissenschaften. Die Abstraktion nährt den Verdacht, daß man gar nicht weiß, um welche Phänomene und um welche Probleme es in den Wissenschaften geht, denen jetzt ein ganzes Jahr gewidmet ist.
Seltsam ist auch, daß man den zur Jahresgabe erhobenen Geisteswissenschaften gleich ein spezielles Thema vorgibt, mit dem sie sich präsentieren sollen. Sie sind aufgefordert, am Beispiel der Sprache deutlich zu machen, was sie zu leisten vermögen. Warum hat man dann nicht gleich die Sprachwissenschaften auf den Schild gehoben? Da wäre man in der Tradition der Vorjahre geblieben und hätte einer hoch entwickelten, hoch differenzierten und hoch internationalisierten Gruppe von Disziplinen die Chance gegeben, sich mit ihren Methoden und Theorien vorzustellen. Gewiß muß niemand befürchten, den Geisteswissenschaften fiele nicht genug zur Sprache ein. Das Befremdliche ist nur, daß man sie im Chor aufruft und dann auch nur ein Lied von ihnen hören will. Doch lassen wir das Mäkeln. Da manchem Politiker zu den Geisteswissenschaften ohnehin nur einfällt, daß deren Vertreter ständig jammern, sei dem mit einer positiven Bemerkung begegnet und angemerkt, daß uns das Jahr der Geisteswissenschaften die ungeahnte Möglichkeit verschafft, ungestraft vom »Geist« reden zu dürfen.

Die Verleugnung des Geistes.

Im Binnenraum der Wissenschaft muß heute jederzeit mit einer Rüge rechnen, wer den Begriff des Geistes verwendet. Wer »Geist« sagt, wird verdächtigt, Anhänger einer rückständigen philosophischen Schule zu sein, die dem Geist, pardon: dem Trend der Gegenwart entgegensteht. Zur Begründung wird auf Hegel verwiesen, dessen Philosophie den Geist mit soviel metaphysischer Substanz aufgeladen habe, daß der Begriff heute unbrauchbar geworden sei.

Um Metaphysik zu vermeiden, wird schon seit Jahren eine »Transformation der Geisteswissenschaften« in die sogenannten Kulturwissenschaften gefordert. In ihr sollen die »geistmetaphysischen Implikationen« Hegels überwunden werden, um die Untersuchung »kultureller Gegenstände im allgemeinsten Sinn« möglich zu machen. Der »allgemeinste Sinn« soll besagen, daß man sich nicht auf »hochkulturelle« Gegenstände beschränkt, sondern alles, auch das Alltägliche und Abseitige, aufgreift, um die Gesamtheit kultureller Phänomene in den Blick zu nehmen. Das ist eine begrüßenswerte Absicht, die nachzuholen versucht, was in der Wende zur Alltagsgeschichte und zur Alltagssprache schon längst vollzogen ist. Philosophen wie Diogenes, Montaigne und Rousseau, Adam Smith, Nietzsche oder Simmel haben dazu Impulse gegeben. Bemerkenswert aber ist die postmoderne Spitze gegen den Geist: Die »kulturellen Gegenstände« sollen nicht mehr als »Geistzeugnisse«, sondern nur noch als »Praktiken« verstanden werden.
Was das heißen könnte, läßt der Begriff der »materiellen Praktik« vermuten. Denn man kennt die geistlos-mechanischen Tätigkeiten, die jeder anspruchsvolle Zeitgenosse meidet, sofern er darin keine physischen Trainingseffekte sucht.

Es gibt einen weiteren Beleg für die Schwierigkeit des Verzichts auf die »Geistzeugnisse«: Neben den »materiellen« werden auch »symbolische Praktiken« genannt! Wie soll man sie verstehen, wenn der Geist gestrichen ist? Selbst wenn die »symbolischen Praktiken« nur »materielle Praktiken« symbolisieren sollten, wäre allein die Leistung der Symbolisierung eine derart offenkundige intellektuelle Aktivität, daß der Geist auch nach der »Transformation der Geisteswissenschaften« unverzichtbar bliebe.

Im Geist Hegels
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Wer ein wenig von Hegel kennt, muß über die Leichtfertigkeit seiner Verabschiedung staunen. Nicht nur in seiner noch stark ökonomisch ansetzenden Jenenser Realphilosophie, sondern auch in der Phänomenologie des Geistes beschreibt er zunächst, was im alltäglichen und im wissenschaftlichen Denken von eben diesem Denken erwartet wird, nämlich etwas Geistiges. Vielleicht geht Hegel etwas zu weit, wenn er nicht nur den Gehalt, sondern auch den Träger des Denkens als »Geist« bezeichnet. Aber bei Licht besehen folgt er auch hier dem alltäglichen Sprachgebrauch, der einem gleichermaßen umsichtigen, aufmerksamen und gewandten Menschen »Geistesgegenwart« bescheinigt und ihn, sollten noch Witz und Bildung hinzukommen, als »geistreich« bezeichnet.
Man kann in der Lektüre Hegels nicht weit gekommen sein, wenn man ihm und seinen Vorläufern die Geringschätzung des Alltäglichen zutraut. Schon in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht geht die Kultur wesentlich aus den »technischen« und den von ihm so genannten »pragmatischen« Leistungen hervor. Hegel verwendet große Teile seiner Enzyklopädie auf die Darstellung der natürlichen und der gesellschaftlichen Prozesse, um die Bildung komplexerer Formen der dann auch von ihm »Kultur« genannten Sphäre zu erklären. Es ist die niemals bloß materielle Praxis der Arbeit, in der das entsteht, was, im Gang der Entfaltung der gesellschaftlichen Kräfte, die Kunst möglich macht. In ihr aber kommt genau das zur Geltung, was schon bei Kant mit dem Begriff des Symbolischen verbunden ist.
Hegel geht einen Schritt weiter. Bei ihm trägt das Symbol nicht nur die freie Sphäre der Kunst, sondern den ganzen Raum kultureller Leistungen. Es sind, um den Terminus aufzunehmen, »symbolische Praktiken«, aus denen sich die Kultur zusammensetzt. Deshalb kann man sich nur wundern, daß es ausgerechnet das Interesse an diesen Praktiken sein soll, das den Abschied von Hegel begründen soll.
Doch ganz gleich, wie man Hegel versteht: Sollte er im Ernst so mächtig gewesen sein, ein treffliches Wort der deutschen Sprache auf Dauer unbrauchbar gemacht zu haben? Sollte sich der Zauber seines Denkens auch noch auf jene erstrecken, die es als falsch ansehen? Wie anders können sie meinen, etwas sei allein deshalb wirklich, weil Hegel es für vernünftig gehalten hat? Wenn sie denn glauben, daß seine Philosophie des Geistes ein Irrweg ist, müßte es doch reichen, auf seine Philosophie zu verzichten. Ein Grund, den Begriff des Geistes zu verwerfen liegt darin jedenfalls nicht. Doch wenn jemand partout so geistlos sein will, auf den Geist zu verzichten, wird man ihn nicht mit einem Argument erreichen. Denn ein Argument, was immer es auch besagt, ist etwas Geistiges.
Der Geist im Medium. Die Umkehrung des Hegelianismus hat auch hundertfünfzig Jahre nach der ersten Wendung (»vom Kopf auf die Füße«) nicht nur den gewollten positivistischen, sondern auch einen ungewollt animistischen Effekt. Der Animismus liegt in der Erwartung, die Verbannung alter Begriffe könne eine Realität zum Verschwinden bringen und durch die Beschwörung neuer Termini ließe sich eine andere Wirklichkeit erzeugen. Einst war es das ausdrücklich so genannte »Gespenst« des Kommunismus, das als neues »Subjekt der Geschichte« das Individuum, den Staat und das Recht vergessen machen sollte. Heute sind es die »Medien«, die uns angeblich von der Illusion einer unmittelbar gegebenen Realität befreien und alles in die totale Vermittlung von allem mit allem überführen. Auch das scheinbar Sicherste, die Gegenwärtigkeit des eigenen Ich, wird als Fiktion entlarvt, so daß man sich am Ende sogar von der eigenen Identität befreit fühlen darf. Was Gefühl dann überhaupt noch heißen kann, steht auf einem anderen Blatt. Ist es ein Zufall, daß sich die postmodernen Medienwissenschaften ihr Thema durch einen Begriff vorgeben lassen, in dem die Hoffnungen spiritistischer Zirkel zusammenschießen?
In Wirklichkeit sind Medien nur Vermittler. Sie stehen, wie der Name sagt, stets als »Mittleres« zwischen der Sache, die sie übertragen, und der Person, für die sie es tun. Ein Medium läßt sich nur in der Relation beschreiben, in der es seine Funktion erfüllt. Abgelöst von seinen Stoffen und von seinen Nutzern kann es kein Medium mehr sein. Wer es daher von dem trennt, was es bietet, und von dem ablöst, wem es dient, nimmt ihm jede Bedeutung.
Darin liegt der Positivismus des Verzichts auf den Geistbegriff. Man sieht vom Individuum und seinen Dispositionen ab und möchte nur noch von konkreten Gegebenheiten sprechen, die auf nichts anderes als auf konkrete Gegebenheiten bezogen sind. Es sind »Praktiken«, die auf »Praktiken« verweisen. Auch in geschichtlicher und gesellschaftlicher Perspektive dürfen sie nur empirisch verstanden werden. Selbst eine Kultur soll nur aus stofflich-technischen Vollzügen bestehen, die in ihrer bloßen »Materialität« zu analysieren sind. Wenn aber die intellektuelle Bedeutung des angeblich rein stofflichen Materials nicht geleugnet werden kann, wird sie der »symbolischen Praktik« oder der »Performanz« eines Geschehens zugeschlagen, die ihren Sinn so selbstverständlich bei sich führen wie eine Handlung ihren Zweck.
Damit wäre man dem Geist wieder ziemlich nahe. Doch solange die Handlung selbst wie eine bloße Sache angesehen wird, der die Bedeutung anhängt wie dem Blei sein Gewicht, bewegt sich die Analyse auch hier nur unter vorkommenden Fällen.

Stellvertreter des Geistes.

Wenn der Positivismus des Geistverzichts nicht gleich offenkundig ist, liegt das an der Aura einzelner Begriffe, die an die Leerstelle des Geistes rücken. Sie sind derart mit dem imprägniert, was sie ersetzen sollen, daß der Verlust des Geistes kaum ins Gewicht zu fallen scheint. Die prominentesten Statthalter sind der »Kontext« und die »Sprache«, in jüngerer Zeit sind die »Techniken« und »Praktiken« sowie, als ernsthafter Kandidat, das »Bild« hinzugekommen. Andere Aspiranten wie »Erinnerung« oder »Gedächtnis« sind schnell wieder verschwunden, weil sie selbst in der Form des »Archivs« dem Geist derart nahe sind, daß sie sich nicht überzeugend auf bloßes Material reduzieren lassen.
Einen »Kontext« hat bislang noch niemand gesehen. Berühren oder schmecken läßt er sich ebenfalls nicht. Vielleicht gibt es Menschen, die ihn fühlen können. Aber auch das wäre ein Indiz für seine Geistigkeit. Denn das Gefühl, das sich stets auf Einheiten bezieht, denen der Fühlende intellektuell zugehört, ist unmittelbar zur Abstraktion. Das tritt nicht erst hervor, sobald einer ein Gefühl zu benennen sucht; da ist dann sofort von einer individuellen oder kollektiven Verfassung von höchster Allgemeinheit die Rede, etwa von »Trauer« oder »Liebe«, »Freude« oder »Zorn«. Schon im Fühlen selbst ist ein Individuum als Ganzes mit dem Ganzen der erlebten Welt verknüpft. Es befindet sich in einer Stimmung, die alles Erlebte einfärbt, in einem Zustand, der schon für es selbst Ausdruck ist und für andere den Charakter einer Mitteilung hat. Deshalb ist es nicht falsch, von der Universalität des Gefühls zu sprechen. Es befindet sich auf der Schwelle des Begriffs und kann ihm schon deshalb nicht nach Art eines Widersachers entgegenstehen.
Der Geist der Gefühle ist hier nicht mehr als ein Indiz dafür, daß der »Kontext«, selbst wenn wir ihn nur spürten, uns nicht vom Geist befreit. Daß er dies auch als Begriff nicht tut, zeigt sich daran, daß er durch keine Anschauung ersetzt werden kann. Man muß den Zusammenhang, in dem eine kulturelle Tatsache steht, denken, wenn er denn Bedeutung für deren Verständnis haben soll. Wenn etwa die geschichtliche Lage der Wissenschaft die Bezugsgröße sein soll, in der die Anordnung eines Experiments, die Publikation eines Buches oder der Auftritt einer Metapher Bedeutung haben soll, kann man sie zwar durch Beispiele illustrieren, in ihrer Funktion aber muß man sie begreifen, wenn sie denn eine Erkenntnis ermöglichen soll. Also kommt die kulturwissenschaftliche Analyse nicht von den Begriffen los, in denen sich ihr die empirischen Gegebenheiten bieten.
Die Sprache als Medium des Geistes. Mit der Entstehung der Sprachwissenschaften im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kam der Glaube auf, die Sprache könne den Geist ersetzen. Im »linguistic turn«, der die Gemüter in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts erregte (obgleich von ihm eigentlich nur hätte gesprochen werden dürfen), wurde daraus ein Bekenntnis, das seinen Niederschlag vermutlich darin findet, im Jahr der Geisteswissenschaften solle vorrangig von der Sprache die Rede sein. Tatsächlich kann man noch heute Philosophen antreffen, die vom »Sprachspiel« (dem nach Wittgenstein alle Bedeutung fundierenden Kontext) wie von einer letzten geistigen Tatsache sprechen.
Aus dem Gesichtspunkt einer rein empirisch verfahrenden Wissenschaft ist es natürlich von Vorteil, sich auf faktisch vorliegende Äußerungen, auf materiale Zeichen sowie auf die Regeln ihres Auftritts beziehen zu können.

Deshalb muß man den Linguisten zugestehen, daß sie sich auf das sprachliche Material konzentrieren. Und wenn es sie motiviert, ihren Forschungsgegenstand für den wichtigsten, ja, letztlich schon für das Ganze zu halten, wird man auch für diese »déformation professionnelle« Verständnis aufbringen. Aber daß ihnen Literatur-, Kunst- oder Musikwissenschaftler, Anthropologen, Ethnologen, Kulturtheoretiker und sogar Philosophen darin folgen, ist weniger begreiflich. Denn was ließe sich noch verstehen, wenn alles Verständnis schon in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache läge? Wie könnte es auch nur zu einem Mißverständnis kommen, wenn der sprachliche Ausdruck schon alles wäre? Zwischen einem Irrtum und einem Versprecher gäbe es keinen Unterschied.
Gewiß wird niemand leugnen wollen, daß die geistigen Vorgänge eng mit dem verbunden sind, was die Sprache leistet. Jeder bewußte Akt hat die Eigentümlichkeit, seinem Träger immer irgendwie verständlich zu erscheinen. Wir erleben ihn, als ob er von jemandem gesprochen wäre, den man unmittelbar versteht. Deshalb gilt das Denken seit alters als ein Gespräch des Denkenden mit sich selbst. Und da es eine Tatsache ist, daß man erst dann in der Lage ist, mit sich selbst zu sprechen, wenn da zuvor andere waren, die mit einem gesprochen haben, gibt es einen zeitlichen Vorrang des faktischen Gesprächs. Aber die Bedingungen des Entstehens sind nicht mit dem Entstandenen zu verwechseln. Daß jemand erst mit Zahlen umgegangen sein muß, um rechnen zu können, ändert nichts daran, daß sich der Akt des Rechnens in einer akuten Einsicht vollzieht, die gänzlich unabhängig von den geschriebenen Ziffern ist.
Mehr noch: Die Funktion des menschlichen Bewußtseins läßt sich als »Mitteilung« beschreiben, die den Organismus instand setzt, sich mit seinesgleichen über unabhängig von ihm bestehende Sachverhalte zu verständigen. Auf diese Weise ist das, was das Bewußtsein leistet, unter den Titel einer auf Dinge bezogenen »Kommunikation« zu bringen. Der Geist ließe sich dann als »Organ« der Verständigung begreifen. Doch selbst in diesem Fall wären Sprechen und Denken nicht identisch! Vielmehr wäre die Bezeichnung geistiger Vorgänge als »Sprache« nur eine Metapher für das, was dem Bewußtsein möglich ist. Geist meint nämlich immer auch die Vergegenwärtigung von etwas, das unmittelbar einleuchtet. Geist liegt im Akt der Einsicht, der selbst nicht sprachlich ist, wohl aber jedem verständigen Sprechakt zugrunde liegt. Der Geist hat somit den systematischen Primat über die Sprache, die ihm gegenüber eine historische, das heißt eine phylo- und ontogenetische Priorität behaupten kann.
Das Bild – nahe am Ursprung der Bedeutung. Im Verhältnis von Geist und Bild liegen die Verhältnisse noch ein wenig verwickelter. Dem mit dem Auge gesehenen Bild liegt selbst schon eine bildhafte sinnliche Anschauung zugrunde, die es erlaubt, einen Teil des Bildes anzusehen, ohne den anderen Teil zu vergessen. Nicht selten scheint es so, als falle die intellektuelle Einsicht mit der bildlichen Anschauung zusammen. Da »sieht« man augenblicklich, was der Fall ist, und hat verstanden, worum es geht.
Doch das Sehen ist nur in jenen Fällen mit dem Verstehen identisch, in denen das Bild eine Lücke in einem sachhaltig gefaßten Zusammenhang füllt. Da kann es wie eine noch fehlende Prämisse oder wie die gesuchte Konsequenz erscheinen und dem Betrachter ein Licht aufsetzen. Dann bietet der Geist den Kontext, in dem das Bild intellektuell wirksam wird, ohne darin seinen Reichtum als Bild zu erschöpfen. Das Bild kann die Funktion eines Begriffs oder eines Arguments übernehmen, darf deshalb aber weder mit dem einen noch mit dem anderen verwechselt werden.(2)
Noch enger ist der Zusammenhang, wenn wir das Bild als etwas Gemachtes verstehen. Dann wahrt es die sinnstiftende Aktivität des Handelns, die es geschaffen hat. Denn das herstellende Tun ist dem auf Absichten und Zwecke bezogenen Geist am nächsten. Absichten und Zwecke übertragen sich direkt auf das Bild, indem eine Linie gezogen wird, um Gegenstände, Personen oder Ereignisse abzubilden. Im rekonstruktiven Aufbau einer Gestalt oder in der Komposition eines Zusammenhangs, also in Tätigkeiten, die, wie beim Herstellen eines Werkzeugs, auch im Produkt den Sinn bewahren, der sie in der Ausführung leitet, geht die Intention der Handlung in den Gehalt des Bildes über.
Im Handlungssinn, so scheint mir, wird die Bedeutung von Bedeutung offenbar. Hier dürfte der Ursprung geistiger Leistungen zu suchen sein. Und so kann das Bild als Konfiguration eines Ausdrucks (wie im Gruß) oder einer Leistung (wie in der Erhaltung des Feuers oder im Schöpfen von Wasser) die Bedeutung bannen, die dem als zweckmäßig erfahrenen Akt an sich selbst, das heißt im Vollzug zukommt.
Achten wir auf die Einsicht, so sind wir in der anschaulichen Präsentation des Bildes dem Geist am nächsten. Denken wir an das augenblickliche Verstehen, kann das gesprochene Wort den Vorzug der nächsten Nähe haben. Gehen wir hingegen von der Bedeutung eines Geschehens oder vom Sinn einer Ereignisfolge aus, dürfte der erschlossene Kontext am ehesten zu erkennen geben, was unter Geist zu verstehen ist. Alle drei – Bild, Wort oder Kontext – bieten aber nicht mehr als ein Medium, in dem der Geist sich äußert, so daß es seiner Verleugnung gleichkäme, wollte man ihn durch etwas ersetzen, worin er sich lediglich zeigt.

Sonderweg des Geistes?

Schon die wenigen systematischen Aperçus machen kenntlich, daß der Begriff der Geisteswissenschaften zumindest nicht deshalb aufgegeben werden muß, weil der Begriff des Geistes bedeutungslos geworden ist. Wer dennoch diesen Argwohn hegt, werfe einen Blick über die Grenzen der deutschen Sprache und lasse sich davon überzeugen, daß »mind«, »esprit«, »spirito« oder »espíritu« auch anderswo unverzichtbar sind. Man wird auch nicht sagen können, daß der Geist eine unzumutbare metaphysische Belastung darstellt. Denn der alltägliche Gebrauch des Wortes zeigt, daß »Geist« vollkommen unabhängig von Hegel und seiner Schule verwendet wird. Die steile Karriere des Adjektivs »mental« zeigt im Gegenteil, wie stark das Bedürfnis nach Geistigem auch dort ist, wo von philosophischen Systemen gar keine Rede ist.

Dilemma

Alles in allem gibt es Gründe, weiterhin vom »Geist« zu sprechen. Im Jahr der Geisteswissenschaften ist das keine beiläufige Einsicht. Ob damit aber der Begriff der Geisteswissenschaften gerechtfertigt ist, steht auf einem anderen Blatt. Pragmatisch gesehen, gibt es keinen Grund, auf den Terminus zu verzichten. Er ist zwar nicht sehr viel mehr als hundert Jahre alt, und mit Sicherheit hätte man es noch im Übergang ins 19. Jahrhundert befremdlich gefunden, zwischen den Disziplinen ein und derselben Fakultät, nämlich der Philosophischen, eine so strikte Trennung vorzunehmen. Gleichwohl hat sich die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bewährt. Gravierende Probleme mit Ländern, die andere Einteilungen bevorzugen, sind nicht bekannt.
Wer es schafft, die Welt in zwei Großbereiche aufzuteilen, so daß auf der einen Seite die (»gegebene«) Natur und auf der anderen Seite die (vom Menschen »gemachten« und insofern unter Mitwirkung seines Intellekts geschaffenen) geistigen Gebilde zu finden sind, der kann mit der Einteilung auch systematisch zufrieden sein. Dann gehören der Kosmos, die Erde oder die physikalische Zeit zur Natur, die politische Geschichte, die Literatur, die Kunst und die historische Zeit müssen hingegen dem Geist zugerechnet werden. Wer das überzeugend findet, muß dann freilich nicht nur die Gesellschaft und das Recht, sondern auch die Technik zu den geistigen Produkten rechnen. Genaugenommen, muß er auch die Naturwissenschaften, die bekanntlich von Menschen betrieben werden, hinnehmen. Und wenn er gründlich denkt, kann er die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, mitsamt der auf ihrer Grundlage ermittelten Naturgesetze nicht ausschließen. Schade nur, daß damit die Unterscheidung hinfällig wird, von der die Überlegung ausgegangen ist. Die

Naturwissenschaften entpuppen sich als Teilbereich der Geisteswissenschaften.

Wer diese Konsequenz vermeiden will, kann den Naturbegriff stärker fassen und ausdrücklich auch die Erscheinungen des Lebens einbeziehen. Dann erkennt er im Leben die produktive Kraft, die sich nicht nur ständig neue Räume erobert, sondern auch unablässig neue Lebensformen schafft. Dann kann er mit den Biologen die »gemachten« Werkzeuge als nach außen verlagerte Organe begreifen und mit den Neurophysiologen auch noch das menschliche Bewußtsein als Produkt der Hirntätigkeit verstehen. Damit geht alles vom Menschen Hervorgebrachte aus dem hervor, was die Natur von sich aus macht, obgleich sie im Ganzen »gegeben« ist. Aus den Gegenständen der Geisteswissenschaften werden Erzeugnisse der Natur, folglich sind die Geisteswissenschaften eine Unterabteilung der Wissenschaften von der Natur.
In dieses Dilemma muß jeder geraten, der die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften für systematisch überzeugend hält. Deshalb empfiehlt es sich im Jahr der Geisteswissenschaften, vom Geist zu sprechen, ohne die Rede mit der Behauptung zu verbinden, Geist sei etwas grundsätzlich anderes als Natur. Nur wer sich hier zurückhält, hat die Chance, auch in der Natur das Geistige zu entdecken – und im Geist eher durchaus Natürliches.

Jürgen Gottschling

Apr. 2007 | Allgemein, Feuilleton, Wissenschaft | Kommentieren