adolf-muschg.jpg
Der vorliegende Text ist das leicht gekürzte Referat, das der Schriftsteller und Professor emeritus der ETH Zürich, Adolf Muschg, zum Thema «Europa – seine Werte – seine Zukunft» an der Konferenz der europäischen Bildungsministerinnen und Bildungsminister am 1. März in Heidelberg gehalten hat – wir erinnern uns an den Eklat des polnischen Ministers und daran, daß selbst Oberbürgermeister Würzner nur inoffiziell davon erfahren hat, daß sich diese illustre Gesellschaft in Heidelberg befindet.
In Robert Musils «Mann ohne Eigenschaften» gilt es das Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josefs II. zu feiern, und ein Komitee bemüht sich um spezifische «Werte», mit denen sich die Donaumonarchie zu diesem Anlass schmücken könnte. Unter den Ironien des Projekts ist es nur die handgreiflichste, dass seine Ausführung 1918 real mit dem Ende des gefeierten Objekts zusammenfiele. Das tiefere Problem, das der Roman mit seiner Ironie hat, besteht allerdings darin, dass er in der Tat die Gewissensfrage einer modernen Zivilisation aufwirft: Welches sind denn die Werte, für die ihre Teilnehmer zu leben und zu sterben bereit sind? Solche Fragen hat in anderen Zeiten auch bei uns die Religion beantwortet, und von «Werten» pflegte sie nicht erst zu sprechen.
Diesen Katalog – Tugenden wie Sünden – hat die Säkularisierung im Westen schrittweise, wenn auch nie restlos, kassiert, wobei dem liberalen Evangelium nach Adam Smith eine Schlüsselrolle zukommt. Denn ihm gelang es bekanntlich, gerade im Zentrum aller Todsünden – dem natürlichen Egoismus – «Gottes verborgene Hand» auszumachen. Seither steht im System der westlichen Werte kein Stein mehr auf dem andern. Sie bleiben vergleichsweise ohnmächtige Lückenbüsser, auch wenn ihnen die Aufklärung das Sonntagskleid von Menschen- und Bürgerrechten angezogen hat. In der werktäglichen Praxis ist kein Staat mit ihnen zu machen – sollte ausgerechnet das anspruchsvollste Staatsgebilde der Geschichte, die Europäische Union, auf sie zu gründen sein? Die sogenannte Pluralität der Werte ist in der Praxis ein gemischter Segen – besonders wenn sie von Menschen, die immer noch religiös gebunden sind, als Relativierung, im Grenzfall gar: als Gotteslästerung wahrgenommen wird. Schon in der Verallgemeinerung von Werten, die uns als unantastbar gelten, sitzt inzwischen der Wurm kolonialistischen Verdachts.

Dilemma der Werte

Ich möchte mich an den «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» Jacob Burckhardts orientieren, der – anders als fast alle seine deutschen Zunftgenossen im 19. Jahrhundert – als Historiker spekulativer Neigungen unverdächtig war. Seine einzige typologische Vorlesung ist nicht zufällig erst postum veröffentlicht worden. Die «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» sind eine Systemtheorie avant la lettre, empirisch entwickelt, aber anthropologisch begründet, und sie haben für unser Thema den Vorzug, das Dilemma der Werte in aller wünschbaren Plastik zu zeigen.
Für Burckhardt werden historische Gesellschaften immer und überall durch drei «Potenzen» genannte Kräfte geformt: die Religion, den Staat und die Kultur. Zwei Potenzen, Religion und Staat, neigen zur Beharrung und verheissen oder erzwingen Stabilität. Die dritte, Kultur genannte Potenz bleibt beweglich, sie repräsentiert jenen Spielraum, der Menschen nicht weniger nötig ist als innere und äussere Sicherheit. Ohne die Potenzen Staat und Religion kann eine Gesellschaft nicht existieren; ohne die Potenz Kultur lebt sie nicht, realisiert weder das Individuum sein Potenzial, noch erfährt sich die Gesellschaft als solche, als wählbare Verbindung selbständiger Teilnehmer. In Burckhardts Sprache: «Der Geist ist ein Wühler»; und solange die anderen Potenzen das unbedingte Sagen haben, wird er auch als solcher behandelt; vom Staat als Verräter; von der Religion als Apostat.
Alle Bewegungen der Geschichte resultieren aus dem Widerstreit dieser drei Potenzen untereinander, aber auch nur dank diesem Widerstreit bewegt sie sich überhaupt, wird sie Geschichte. Im Glücksfall erkämpfen sich die drei Potenzen mit- und gegeneinander ein vorübergehendes, überaus labiles Gleichgewicht. Aber, und dieser Fall ist aktuell, auch die Freiheit tendiert zur Macht, die – das ist eines der wenigen Axiome Burckhardts – per se böse, weniger moralisch gesagt: barbarisch ist. Als Muster dafür taucht bereits in den «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» die neue Weltwirtschaft auf. Ihrem Ursprung nach ist sie ein Geschöpf der Freiheit, in ihrer Verabsolutierung aber ein Tyrann wie ein anderer, und für das Gleichgewicht der Zivilisation möglicherweise fataler als jeder andere. Denn sie führt tendenziell zum Ausverkauf jener Werte, welche bei Staat und Religion schlecht oder recht aufgehoben waren.
Burckhardts Glücksverheissung – keineswegs eine Utopie, sondern ein tägliches Stück Kulturarbeit – beruht auf dem Modell, dass jede Potenz nur bedingt durch die beiden andern und zum Zusammenwirken mit ihnen genötigt zur eigenen veredelten Form findet; der Staat als begrenzter zu seiner vernunftgesteuerten Rolle; die Religion als persönliche zu ihrer Offenheit; die Kultur als autonome zu ihrer repräsentativen Stärke. Damit die Bedingungen für dieses menschenwürdige Zusammenspiel eintreten können, muss eine bestimmte formende Kraft, die allen dreien inhärent ist, geweckt worden sein und die Steuerung der Zivilisation übernehmen. Dieses Element ist bei Burckhardt, kurz gesagt, die Kunst: Politisch erscheint sie als Staatskunst, religiös als erlaubte Vielfalt, kulturell als Lebenskunst. Der Schlüssel zu dieser Entwicklung liegt bei der eigentlich gesellschaftlichen Kraft, der Kultur: Zwar kann sie weder regieren noch gläubig machen. Und doch ist sie der Testfall jeder andern Freiheit, denn ihr Thema ist das anspruchsvollste, zugleich das eigentlich zivilisierende der Gesellschaft: die Vieldeutigkeit der menschlichen Existenz in Verbindung mit ihrer Autonomie.
Illusionsloser Blick Der Idealtyp von Burckhardts Modell ist auf einem einzigen Quadratkilometer klassischen Bodens zu besichtigen: der Akropolis Athens. Auf der Höhe das Heiligtum der Stadtgottheit, am Südhang das Dionysos-Theater und schliesslich, auf der Nordseite des Hügels, die Agora, der Schauplatz der Demokratie, des bis heute wirkungsvollsten Beitrags Athens zur europäischen Zivilisation. Hier feilschte man, wie auf jedem Markt der Welt, um den Preis von Waren; und zugleich, wie auf keinem andern, stritt man um den Wert, den Rang der Dinge. Hier lernten Menschen, die in der Tragödie erfahren hatten, dass dem Menschen nicht zu helfen sei, als Bürger sich selber helfen.
Dabei war Burckhardts Blick ohne Illusionen, wie derjenige seines antiken Vorbilds Thukydides. Als Erzähler des Peloponnesischen Kriegs wusste er, dass dieser für Athen verloren war; aber da er ihn als Bürgerkrieg betrachtete, an dem sich Kriegsgründe – und Kriegsvorwände – überhaupt studieren liessen, gingen die Einsichten darüber nicht verloren. Athen war in seinen Augen weit entfernt, die beste aller Welten zu sein: Und doch ermöglichte es seinen Bürgern zum ersten Mal die freie Entfaltung aller ihrer Kräfte. Hier war es – wie es in der Totenrede des Perikles heisst – schön zu leben, darum lässt ihn Thukydides Athen «eine Schule» für das ganze Griechenland nennen; für Burckhardt war es eine Schule menschlicher Zivilisation. Um sie an einer ihrer Lektionen zu illustrieren: Der grosse Tragiker Sophokles wünschte auf seinem Grabstein nicht als Schöpfer der Antigone geehrt zu sein, sondern als Soldat im Krieg gegen die Perser. Anderseits: Sein älterer Kollege Aischylos hat denselben «Persern» eine Tragödie gewidmet, die gänzlich frei ist von Triumphalismus: Sie betrachtet das Schicksal des Feindes mit Erschütterung und Respekt. Wer handelt hier: die Politik, die Religion, die Kultur? In unauflöslicher Verbindung zeigen sie die Kunst der Polis am Werk.

Kosmopolitismus

Vergleichbare Errungenschaften mussten sich in Europa vor 1945 auf die spezialisierte Kultur beschränken; Bilder eines friedlich vereinigten Europa galten als Produkte von Visionären und Träumern. Seit 1945 – und seit 1989 – ist die Arbeit an der «Polis Europa» zur konkreten und gemeinschaftlichen Aufgabe geworden, die alle Burckhardtschen Potenzen – und alle Potenziale der Europäer – ganz neu herausfordert. Ein über hundertjähriger Bürgerkrieg, der sich zum Weltkrieg, zur Katastrophe der Zivilisation ausgeweitet hat, bildet die schauderhafte – und hoffnungsvolle – Grundlage für eine Entwicklung, zu der es keine Alternative gab als den Absturz.
Es ist nötig zu wissen, dass das politische Europa sich nicht nur gegen diese Menetekel gebildet hat, sondern immer noch in ihrem Banne steht, auch wenn sie ihr Gesicht verändert haben. Der Glücksfall der heutigen Union wird nicht dauern, wenn sie nicht die Kraft und den Willen hat, auf die Frage der globalisierten Wirtschaft eine Antwort kosmopolitischer Zivilisation zu liefern, an der alle Burckhardtschen Potenzen in einem neuen, in der Geschichte noch nie da gewesenen Gleichgewicht beteiligt sind. Diese Antwort muss nicht nur tragbar sein für ihre Bürger, sie allein können sie tragfähig machen. Das ist der epochale Hintergrund unserer «Werte»-Debatte. Europa braucht Werte weder ganz neu zu erfinden, noch darf es sie für sich allein beanspruchen.
Um diese Wertvorstellung annäherungsweise zu definieren, halte ich es für unerlässlich, an der Differenz zwischen Globalisierung und Kosmopolitismus festzuhalten. Auf der klassischen Agora waren Ratplatz und Markt eng verbunden und zugleich durch eine unsichtbare Linie geschieden: Sie trennte die Sphäre des Handels und Wandels von derjenigen politischer Entscheidung. Im einen Raum bewegt sich der Mensch als Kunde, im andern als Bürger. Sowohl der Preis von Waren als auch der Wert der Dinge wollen im Dialog gefunden werden, doch das Gespräch von Kauf und Verkauf dient der Notwendigkeit und dem Bedürfnis; hier herrscht gewissermassen unumschränkt die Natur. Der politische Diskurs aber entscheidet zwischen Bedürfnissen, muss daher auch imstande sein, sich über sie zu erheben und von unmittelbaren Interessen frei zu machen.
Die Unterscheidung zwischen dem naturgebundenen «Reich der Notwendigkeit» und dem geistbestimmten – und kulturbestimmenden – «Reich der Freiheit» war für das europäische Denken von seinem Ursprung her konstitutiv. Die klassische Antike lieferte eine philosophische, die christliche Religion eine religiöse, die Aufklärung eine moralische Begründung dafür. Alle zusammen begründen die kosmopolitische Dimension, die «Tiefe» der gesellschaftlichen Kultur.
Lassen Sie mich, was gemeint ist, an einem antiken Merksatz illustrieren, der regelmässig verkehrt zitiert wird. Im Originalton Senecas lautet er: «Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir.» Also: nicht für das Nötigste und Notdürftige, für das der Markt zuständig ist, das aber für die Bedürfnisse der Polis zu dürftig wäre – auch wenn es wie Wohlstand aussieht. Lernen, das heisst: sich bilden muss man für die Schule, s-chol, was griechisch «Musse» bedeutet; also für den richtigen, den kunstvollen Gebrauch von Freiheit, auch der Freiheit von Bedürfnissen, wie sie Diogenes auf der Agora demonstriert hat, als er an Alexander den Grossen keinen Wunsch hatte, als: Er möge ihm aus der Sonne gehen.
Das Ziel dieser Freiheit steht auf keinem Ferienplan und keinem Einkaufszettel, aber sie ist die Grundlage für ein Gemeinwesen, in dem nicht nur bequem oder sicher zu leben ist, sondern schön. Dieser Begriff von Schönheit steckt im Element «kosmos» der Zusammensetzung «kosmopolitisch», in der das Lange und Breite unserer natürlichen Bedürfnisse mit der Tiefe des Anspruchs auf Zivilisation zwar zusammen besteht, aber mit ihm durchaus nicht identisch ist und auch der Eroberung der Kultur durch den Markt widersteht – in aller Freiheit. Wer diese Freiheit nicht kennt, ist ein Wilder, wer sie bestreitet, ein Barbar, wer sie auf den Markt beschränkt, ein Banause – das sind die drei Versuchungen zum Selbstverlust, vor denen Europa die ihm mögliche Zivilisation bewahren muss. Denn seine kostbarste Errungenschaft steht auf dem Spiel: der Schutz berechtigter, erträglicher und verträglicher Vielfalt.
Wie das Gegenbild dazu aussehen könnte, ja wie es aussehen soll, führen uns heute die Lobredner der Globalisierung als «flache Welt» vor – so der Pulitzerpreisträger Thomas L. Friedman in seiner Vision von Wertschöpfungsketten, die sich dank den Eigenschaften von Silikonkristall und Glasfaserkabel dramatisch verkürzen lassen. Dieser «flachen Welt» soll die Zukunft gehören – eine paradoxe Aussicht, denn sie legt es zugleich darauf an, das raumzeitliche Gefäss menschlicher Existenz buchstäblich plattzumachen, als wäre deren Grundlage, die Bindung an Raum und Zeit, das eigentliche Hindernis für den «pursuit of happiness». Die Deformation und Verödung kultureller Praxis – sie segelt gern unter Bannern wie «Kommunikations»- oder «Wissens»-Gesellschaft – erlaubt nicht mehr, eine Freiheit ein reines Phantom zu nennen, welche die Grenzen der Endlichkeit zu überspringen verspricht – und damit den Reibungswiderstand jeder Zivilisation, die Todesgewissheit, banalisiert.

Historisches Gedächtnis

Aber ganz sicher hätte Europa als politische, kulturelle, religiöse Errungenschaft in der «flachen Welt» keine Stelle mehr. Denn Europa ist auf die Verbindlichkeit von Raum und Zeit gegründet, auf Verantwortlichkeit für das Hier und Jetzt. Ohne Gedächtnis verliert es, mit seiner Identität, auch das Bewusstsein ihrer Fragwürdigkeit; es kann, wenn es denn Zukunft haben soll, seine Herkunft aus der zeitlichen Tiefe, die Unbequemlichkeit seiner Geschichte nicht abschütteln. Diese bleibt die obligatorische Schule seiner Freiheit. Wer Europa durch eine technologische Lobotomie von ihr zu entlasten verspricht, bringt es um sein spezifisches Gewicht und um die Erbschaft, die es – ihrer barbarischen Mitgift eingedenk – der Weltzivilisation zu melden hat. Muss von Werten die Rede sein, europäischen Werten, so gehört der Umgang mit Grenzen vielleicht an erster Stelle dazu: Und er beginnt mit der Anerkennung der eigenen Grenzen.
Die EU ist, wahrlich, ein hinreichend begrenztes Gebilde. Aber dass sie innerhalb dieser zu anerkennenden Grenzen jemals Tatsache würde, haben sich vor hundert Jahren nur Utopisten träumen lassen – und sogar vor zwanzig Jahren hat kein Realist daran geglaubt. Und doch haben sich heute 27 eigensinnige Nationalstaaten zu einer Verbindung zusammengeschlossen, die zwar immer noch auf der Suche ist nach einer eigenen Verfassung, aber auf der «Arbeitsebene» schon erstaunlich solide verfasst ist: und gerade auf ihr auch wieder jeden Tag Gründe genug findet, ihrer Haltbarkeit zu misstrauen. Ein solches von der List der Vernunft geschaffenes, jetzt aber auf die Klugheit, nein: die Weisheit seiner Gestalter dringend angewiesenes Gebilde bietet unerschöpflichen Lernstoff für die «Schule», die Seneca gemeint hat.

März 2007 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | Kommentieren