Orakel, wer sich je damit beschäftigt hat, beschäftigt mit Sterndeutern, mit Kaffeesatzlesern oder sich in die Hand einer Wahrsagerin begeben hat, ist auf einem guten Weg, die Erklärungen von Wirtschaftsexperten zu Konjunkturprognosen besser zu verstehen, denn normale Menschen.
Gebetsmühlenartig und regelmäßig wird das Ritual unerschütterlich wiederholt. Man verkündigt die frohe Botschaft, wir seien bereits aus der Sohle des Tränentals heraus, um im gleichen Zug zu erklären, daß sich die letzte Vorhersage als falsch erwiesen hat und „nach unten revidiert” werden muß. Erneut werden Daten und Indizes prophezeit, nach denen sich die Entscheidungen der Politik und das Verhalten der Wirtschaftsakteure richten sollen. Bis zur nächsten Korrektur.

Tendenz Richtung Sommer

Mehr noch als ihr chronisches Versagen verblüffen die Erklärungen der Experten dafür. Wieso wurden die Konjunkturprognosen widerlegt? Weil die Konjunktur sich schlechter entwickelt hat als angenommen. Man bewundere die Seriosität des Arguments: Es ist, als ob ein Meteorologe einen sonnigen Tag in Brandenburg vorhersagte, um am nächsten Tag zu erklären: „Zwar hat es pausenlos geregnet, doch dies bedeutet keineswegs, daß meine Prognose falsch war. Nur kamen unerwartet Regenwolken aus Polen gezogen und verschoben den Sonnenschein ein wenig. Aber die Tendenz geht Richtung Sommer.” Wenn nun angekündigt wird, daß letzte Konjunkturprognosen wegen (etwa) des hohen Ölpreises nach unten korrigiert werden müssen, drängt sich die Frage auf: War das voraussehbar? Wenn nein, dann nützt die Vorhersage nichts, wenn ja, dann haben die Experten versagt.

Eine weitere Ad-hoc-Erklärung lautet: Die Daten sind gut, aber die Wirtschaftssubjekte haben sie noch nicht als solche wahrgenommen und verhalten sich weiterhin, als ob sie schlecht seien, was sie wiederum verschlechtert. Wer hätte das gedacht? Nicht die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung jedenfalls, die Monat für Monat einen Null-Komma-etwas-Anstieg des „Konsumklimas” vorgaukelt, um kurz daraufhin festzustellen: „Noch fehlt den Bürgern der Glaube an den großkoalitären Aufschwung.” Und, wir wissen es ja, ohne Glaube geht gar nichts.

Im Himmel der Ökonomie

Im Grunde wird also das Scheitern wie folgt begründet: Hätten sich nur die Bürger gemäß den Prognosen verhalten, dann wären die Prognosen gültig gewesen. Im Himmel der Ökonomie schweben unbefleckte Zahlen, Kurven und Indizes, die sich harmonisch und voraussehbar verhalten, doch auf Erden handeln Menschen und, ob Unternehmer, Investoren, Lohnabhängige oder Almosen(sic!)empfänger, sie machen alles falsch, stellen sich quer zur ökonomischen Rationalität.

Man könnte glauben, daß der handelnde Mensch Hauptgegenstand der Wirtschaftswissenschaft sei, doch er wird als Störfaktor jener mechanischen Gesetzmäßigkeit angesehen, die das Weltgeschehen regelt. An dieser Trennung zwischen Reinheit und Sünde ist das fundamentalistisch-religiöse Moment der Ökonomie zu erkennen.

Keine positive Wissenschaft

Es wäre nun ein Irrtum, einzelnen Experten oder Instituten vorzuwerfen, sie seien unzureichend kompetent, in die Zukunft zu blicken. Die Ursache sitzt tiefer, darin nämlich, daß die Ökonomie trotz ihrer Ansprüche keine positive Wissenschaft ist und sein kann. Der Würzburger Wirtschaftsprofessor Karl-Heinz Brodbeck bringt zwei prinzipielle Gründe für das prognostische Scheitern vor. Erstens werde das, was Konjunktur genannt werde, aus unzähligen Phänomenen gewoben, die weltweit interagierten und von niemandem überblickt werden könnten. Dies um so mehr, als das Wirtschaftsfeld auch und vor allem von Parametern beeinflußt werde, die von außen her kämen.

Der zweite Grund: Experten seien nun mal keine Beobachter eines ihnen äußerlichen Gegenstands, sondern selbst Teil des Gegenstands. Prognosen sind nicht neutral. Wenn ich zum Beispiel ankündige, daß eine Firma demnächst (Hallo, Landgericht MA für Wirtschaftsstrafsachen) insolvent wird, und mir Glauben geschenkt wird, dann beeinflusse ich das Verhalten von Kunden, Lieferanten und Aktionären, und die Firma gerät erst recht in Schwierigkeiten. Ich habe die Tatsache nicht vorhergesagt, sondern mitverursacht. Wirtschaftssubjekte reagieren auf eine Vielzahl von Reizen, darunter auch Prognosen und maßgebliche Meinungen. Daher meint Brodbeck: „Die Anwendung der Theorie ist ihre Falsifikation.”

Politische Aussagen

Gerade diese Eigenschaft erklärt, warum Prognosen, obwohl systematisch falsch, eine zentrale Stelle im Wirtschaftsgeschehen einnehmen. Auf die Bestätigung kommt es nicht an. Ihre Funktion ist nicht prädiktiv, sondern normativ. Sie machen keine wissenschaftlichen, sondern politische Aussagen. Hinter der Scheinobjektivität mathematischer Modelle versuchen bestimmte Akteure, die Handlungen anderer Akteure zu beeinflussen.

Wenn die „Erwartungen” der Haushalte veröffentlicht werden, dann wird damit gerechnet, daß jeder Haushalt sein Verhalten dem angekündigten Konsens anpassen wird. Zudem beschränken sich Experten nicht darauf, leere Vorhersagen zu liefern. Sie beraten auch Entscheidungsträger. Dabei dürfen ihre schulmeisterlichen Empfehlungen um so radikaler sein, als sie weder auf Wähler noch auf Belegschaften Rücksicht nehmen müssen.

Die Hüter des Glaubens

wirtschaftsweise.jpg Der gesellschaftliche Stand der Wirtschaftsexperten entspricht dem des mittelalterlichen Klerus. Kein Staatsmann kann ohne ihre Salbung regieren. Sie sind die Hüter des Glaubens. Daher vermischt sich in ihrem Charakterbild die Süffisanz des Prälats mit dem Eifer des Missionars. Ihr unantastbares Dogma heißt Wachstum. Daran wird alles gemessen.

Vergessen sind die alten Mahnungen, Wachstum könne nicht ewig fortgesetzt werden, ohne an katastrophale Grenzen zu stoßen. Mittlerweile haben sich nicht nur die Grünen, sondern auch viele Globalisierungsgegner zum Dogma bekehrt. Und doch reicht es, nach China zu blicken, um die zerstörerischen Effekte starken Wachstums festzustellen.

Das höchste moralische Gut

Aber die heilige Kuh darf nicht angetastet werden, weil sie einen zweiten Glaubenssatz nährt, nämlich, daß Arbeitsplätze erst von zwei Prozent Wachstum an entstehen können. Und wir wissen ja: Ganz gleich, ob sie zu etwas nützen und genug bezahlt werden oder nicht, Arbeitsplätze sind das höchste moralische Gut. Da sind wir wieder im magischen Reich der Prognosen angelangt, wogegen die Erfahrung keinen Einwand erheben darf. Daß Rekordgewinne vor Massenentlassungen nicht schützen, ist mittlerweile bekannt.

Selbst wenn das Wachstumswunder also geschehen würde, ahnen wir, wie dann argumentiert würde: Es ist noch zu früh, um die Erträge auszuschütten. Schließlich löst sich die vertrackte Wirtschaftstheologie in simple Gebote auf: Unternehmen und Spitzenverdiener sollen von Steuern und sonstigen gesellschaftlichen Verpflichtungen befreit werden. Beschäftigte sollen weniger Geld und längere Arbeitszeiten hinnehmen. Um auf solche Anweisungen zu kommen, ist es nicht nötig, ein Studium der Ökonomie absolviert zu haben.

Die Beeinflussung der Massen

Das Berliner DIW, das Kölner IW, das Hallenser IWH, das Münchner ifo-Institut, nicht zu vergessen die fünf weißbärtigen „Wirtschaftsweisen” – all diese Konvente und Konzile bilden eine einheitliche Gesellschaft zur Verbreitung des Glaubens. Ihre einzig erkennbare Leistung ist die Massenbeeinflussung des Verhaltens. Die gute Nachricht ist aber, daß die Wirkung immer häufiger ins Gegenteil umschlägt. Der pseudowissenschaftliche Firnis ist rissig geworden. Zuviel falsche Prophezeiungen verderben das Vertrauen.

Geben Experten eine Prognose bekannt, wird ihr Widerruf bereits erwartet. Kündigen sie einen neuen Reformplan an, wird mit weiterer Verschlechterung gerechnet. Die Priester der Ökonomie werden heute nicht ernster genommen als früher SED-Funktionäre beim Ergebnisbericht des Fünfjahresplans. Von immer breiteren Teilen der Bevölkerung wird die endlose Schleife ihres Geredes nur noch als störendes Geräusch aufgenommen. Daher sollte man die Wirtschaftsexperten schonen. Sie sind die besten Agenten im Dienst der Demotivation. Angela Merkel hingegen hatte gerade Grund zur Freude. Und, sich darüber zu ärgern, daß sich kaum wer so recht mitfreuen wollte …

Jürgen Gottschling

März 2007 | Allgemein, Wirtschaft | Kommentieren