In Fragen der Vernunft und der Freiheit haben Gesellschaften genauso wie Individuen eine klare Antwort zu geben. Sie müssen sich entscheiden.

Wir leben in einer Zeit, in der selbst Theologen beginnen, nicht länger von einem unfehlbaren Glauben zu sprechen, sondern die Triftigkeit und Güte des Arguments zu bevorzugen.

Der sich heute noch vor Descartes und Leibniz ankündigende neue Typus von Rationalität hat nicht nur die modernen Naturwissenschaften, sondern die Demokratie als solche begründet. Entscheidend war von nun an die Vorstellung, daß Rationalität eine Methode und keine bloße Überzeugung ist und daß diese Methode auf die Natur, den Menschen und die Gesellschaft angewendet werden kann: Die Vernunft gibt uns das Wissen, während uns der Glaube nur eine Meinung erlaubt – eben deshalb ist er unterlegen.

Im Zentrum gegenwärtiger multikulturalen Debatten scheint mir vor allem die Frage zu stehen, ob Irrationalität in der gleichen Weise unsere Wertschätzung verdient wie Rationalität. Fragen wir also: Ist der der Anspruch auf Rationalität nur eine Überzeugung neben vielen anderen, die wir nicht mehr, aber auch nicht weniger zu achten haben als andere Ansprüche, welche Art von Irrationalität und Fanatismus auch immer von ihnen ausgehen mag? Dieser, wie ich meine, nur schwachsinnig zu nennende Relativismus führt geradewegs zu einer Anklage gegen all jene, die an westliche Toleranz und demokratische Freiheiten glauben: Ihr Glaube wäre demnach nichts weiter als eine Art Aufklärungsfundamentalismus.

Einem solchen Vorwurf liegt die Vorstellung zu Grunde, daß unsere westliche Rationalität aus einer Unzahl von Dogmen besteht, die sich in keiner Weise von anderen dogmatischen Anschauungen und Ansprüchen unterscheiden, so wie sie sich in großer Vielfalt über die ganze Welt verteilen. In dieser äußerst dubiosen Spielart des Multikulturalismus werden wir nun aufgefordert, alle Dogmen, alle autoritären, politischen wie moralischen Ansprüche mit dem gleichen Respekt zu behandeln.

Das aber ist in der Tat unmöglich. Und zwar nicht nur, weil der allen Ansprüchen oder „Dogmen“ gleichermaßen zu Grunde liegende Begriff von Kultur äußerst unscharf ist und der Beliebigkeit Tür und Tor öffnet. Die Folge ist eine Verwechslung zwischen Dogma und Rationalität, zwischen unfehlbarem Glauben und triftigen Argumenten.

Religiöse Überzeugungen auf der einen Seite und die unsere westlichen Gesellschaften auszeichnende wissenschaftliche Rationalität auf der anderen Seite stehen allerdings gar nicht im Wettstreit miteinander. Es gibt, zum Beispiel, keine christliche oder muslimische Version der Biochemie. Religionen haben in der Regel kaum etwas zu tun mit empirischen Beobachtungen, experimentellen Anordnungen oder logischen Schlußfolgerungen.

Die eigentliche Punkt aber ist ein anderer: Die verschiedenen Ansprüche oder Anschauungen in den jeweiligen „Kulturen“ sind nicht miteinander vereinbar. Selbstverständlich, Monotheisten, Atheisten und Polytheisten sollten idealerweise in der Lage sein, in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Aber die Gesetze der Scharia und die Regeln westlicher Demokratien, die othodoxen biblischen Vorschriften, die etwa ein strenge Bestrafung homosexueller Lebensgemeinschaften vorsehen, und unsere modernen Sozial- und Familiengesetze sind vollkommen unvereinbar. Und diese Unvereinbarkeit ist im „multikulturellen Gespräch“ nicht einfach wegzudiskutieren.

Es gibt eine eigentümliche Interpretation der Toleranz, die diesen Begriff vollkommen bedeutungslos und leer werden läßt. Aber die Aufforderung, daß wie gegenüber allem und jedem in der gleichen Weise tolerant zu sein haben, ist schlicht gedankenlos. Ebenso wie es übrigens absurd wäre, daß alles, was uns in der Erfahrung begegnet, eine Illusion zu nennen – wir könnten dann sofort aufhören, zwischen barer Münze und Falschgeld, zwischen Halluzination und Realität zu unterscheiden.

Vielmehr gibt es etwas, das ich Logik der Toleranz nennen möchte.

Es führt die Toleranz gegenüber der Intoleranz zur Intoleranz.
Es führt die Intoleranz gegenüber der Intoleranz zur Toleranz.

Pathetisch läßt sich das auch so sagen: In Fragen der Vernunft und der Freiheit haben Gesellschaften genauso wie Individuen eine klare Antwort zu geben. Sie müssen sich entscheiden. Es gibt hier keinen Mittelweg. Das gilt für die Bürger eines Landes genauso wie für die Zugezogenen. got

Feb. 2007 | Allgemein, Feuilleton, Kirche & Bodenpersonal, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren