Er hat Epoche gemacht, indem er Epoche erzählte. Siegfried Lenz‘ «Deutschstunde» hat das Wohl und Wehe des «Deutschen» in sinnliche Prosa gesetzt. Und schuf – in fiktiver Replik auf die Schulaufgabe, die «Freuden der Pflicht» abzuhandeln – ein fulminantes Panorama des nordseeseitigen Lebens zwischen Wasser, Watten und Wetter. Zum 80. Geburtstag des Autors bringt sein Stammverlag Hoffmann und Campe Lenz‘ Werk in einer angemessenen Audio-Ausgabe heraus. Also ist die ungekürzte Lesung der «Deutschstunde» nun knapp zwanzig Stunden lang zu erleben, wenn nicht der komplex gewebte Text überhaupt neu zu entdecken steht: Lenz‘ präzise, leicht ironische Diktion verleiht diesem Wortmeer faszinierend Fasson, keine Minute ist zu missen. Nicht anders geht es bei den Erzählungen zu, deren noble Beiläufigkeit die komplexe Komposition kaschiert. Woher diese künstlerische Souveränität, ihre kundige Knappheit resultiert, ist praktikabel nachvollziehbar hörbar in einer 28-stündigen Anthologie, die NDR-Kulturredaktor Hanjo Kesting aus Lenz‘ (an die 800 Titel umfassenden) Radioarbeiten zusammengestellt hat.
An den seit 1946 – meist für den Hamburger Sender – verfaßten Texten, Rezensionen und Glossen wird das allmähliche Werden des Erzählers nachvollziehbar. So stehen die Stadtfeuilletons – etwa «Hamburger Stundengesichter» (1957) – den großen Vorbildern Roth und Kracauer wenig nach, didaktisch-sokratische Dialoge leuchten Kulturgeschichtliches hellhörig aus. Im Medium zahlreicher Rezensionen zu Grossen der Weltliteratur (Schulz, Melville, Nabokov, Faulkner, Koeppen) prüft der Autor sich und das eigene Schreiben, Essays und Interviews gewähren später Raum für Selbstauskünfte («Mit Schund im Bett: Meine erste Lektüre», 1979). Absolut einer Wiederbelebung würdig sind jene Hörspiele («Zeit der Schuldlosen», 1960, «Zeit der Schuldigen», 1961, «Haussuchung», 1963), deren je neu arrangiertes Gefangenendilemma den Komplex von Schuld und Mitwisserschaft existenzialistisch durchquert. Zur Aufmunterung kommt da die kecke Polemik gegen den Lärm (1959) gerade recht – oder Lenz‘ flott tönender Auftritt als «Diskjockey» im Jahr der «Deutschstunde» 1968.
Siegfried Lenz: Deutschstunde, Lesung Autor, 16 CD (1160 Min.); Erzählungen I, 8 CD (540 Min.), und Erzählungen II, 6 CD (462 Min.); Das Rundfunkwerk, Hörspiele, Essays, Features, hrsg. von Hanjo Kesting, 2 MP3-CD (28 Stunden). Alle: Hoffmann und Campe 2006.