Nach sozialwissenschaftlicher Ansicht leben wir seit langem in einer «Opferkultur», wo die Klage, benachteiligt zu sein, auf offene Ohren stößt. Doch das Gebälk dieser Kultur zeigt Risse.
«Du bist ein Opfer! Kein Player, kein Rapper, kein Mann. Du bist ein Opfer!» So tönt es, wenn ein Berliner Gangsta-Rapper einen anderen mit einem Diss-Track, altdeutsch: Schmählied, aufs Übelste verhöhnen möchte. Die gleiche rhetorische Waffe kommt in Anschlag, wenn Jugendliche auf der Straße oder an der Schule jemanden ausgucken, von dem sie meinen, er lasse sich je nach Laune demütigen und «abziehen», also berauben oder zu Schutzgeldzahlungen erpressen. Die Beschimpfung «Du Opfer» vereinzelt den Beschimpften radikal. Er wird aller Gruppenidentität entkleidet: Nicht seine Hautfarbe oder Herkunft, sein Milieu oder seine Kultur hält man ihm vor; nicht etwa als «Kanake», «Knoblauchfresser» oder «Schlitzauge» wird er attackiert. Gewissermassen nackt steht er da. Sein Sein ist sein Verhängnis. Die Täter blicken ihn ontologisch an, sie verorten seine Existenz jenseits sozialer Zugehörigkeiten. Machtvoller kann der Triumph der Peiniger nicht sein. Denn wer sein Gegenüber «Opfer» nennt, der sagt damit: Dir hilft keiner, dich rächt niemand, dich kann man gefahrlos quälen.
«Du Opfer» ist nicht nur in verrohten Vierteln deutscher Metropolen, sondern bis in ländliche Kreise hinein das schlimmste Etikett, das einem im bildungsfernen Milieu angeheftet werden kann. Eine Lizenz zum Anspucken. Man tippe einmal auf Youtube, der Internetplattform für Videos, welche die Nutzer selber einstellen, das Wort «Opfer» ins Suchfeld. Bezeichnend sind die Sujets der dann angezeigten vielen hundert Treffer. Nicht um das Opfer, das jemand dankenswerterweise bringt, auch nicht um Menschen, die unser Mitleid verdienen, geht es dort mehrheitlich. Dominant sind vielmehr Hohn, Häme und die Lust, die Drangsalierten in ihrer Schwäche dem öffentlichen Gelächter preiszugeben. Die Frage, was moralisch anstössiger ist, Opfer zu sein oder Täter, wird hier klar zulasten der Opfer beantwortet.
Irritierender Wandel
Das muß irritieren, denn seit Jahrzehnten pflegen wir eine Kultur der Anerkennung, die es gut mit Opfern meint. Frauen als Opfer männlicher Gewalt, Schwarze als Opfer von Rassisten, Schwule als Opfer von Päpsten, Bischöfen und anderen verdrängenden Homophoben, Nichtraucher als Opfer der Raucher – sie alle können, jedenfalls in der Beletage des moralischen Diskurses, auf Verständnis für ihre Nöte rechnen. Der Opferstatus verspricht Identität, Prestigegewinn, Unangreifbarkeit. Opfer zu sein, entlastet von Verantwortung, fordert Aufmerksamkeit und setzt jene unter Rechtfertigungsdruck, die ihr Mitleid verweigern.
An der Integrität eines Opfers zweifelt man nicht leichtfertig. Der Verdacht, daß Benjamin Wilkomirski seine in dem Buch «Bruchstücke» berichtete Kindheit im KZ nur erfunden hatte, mußte sich gegen den hemmenden Eindruck durchsetzen, wer solchen Argwohn äußere, sei gefühllos. Auch Mutter und Schwester eines Sechsjährigen, die im Sommer 2000 fälschlich verbreitet hatten, der Knabe sei von rassistischen Halbwüchsigen im Schwimmbad von Sebnitz ertränkt worden, vertrauten darauf, daß ihre Glaubwürdigkeit vom Opfer-Bonus profitieren würde. Gleichermaßen spekulierte im Juli 2004 eine gewisse Marie L., als sie log, sie sei mit ihrem Säugling in der Pariser Metro von Antisemiten angegriffen worden, und zwar unter den Augen teilnahmsloser Passagiere. Marie lag durchaus richtig: Bevor der Schwindel aufflog, war Frankreich erst einmal erschüttert. – Nun ist der Mißbrauch einer Sache kein hinreichendes Argument gegen sie. Fälle wie Wilkomirski oder Marie L. haben es nicht vermocht, unsere «Opferkultur» in ihren Fundamenten zu erschüttern.
Es paßt zur liberalen, postheroischen, individualistischen Gesellschaft, vom Einzelnen nicht Aufopferung für höhere und allgemeine Zwecke zu verlangen, ihn nicht zur Duldsamkeit zu ermahnen. Emphatisch wird die Rede vom Opfer nur noch, wenn es gilt, Leiden und Benachteiligung zu beklagen. Darin steckt gewiß ein zivilisatorischer Gewinn, ein Zuwachs an Empathie und Zartheit. In dem Maß freilich, wie das Profitieren vom Opferstatus zu einer forcierten Ausweitung von Opfergruppen führt, Opferkonkurrenzen schafft und «Opferanwälte» sowie als «Opfermacher» wirkende Therapeuten auf den Plan ruft, droht eine Korruption zivilisatorischer Vorzüge. Verdruß ist die Folge, und Intellektuelle unterschiedlicher Couleur sehen sich zur Gegenrede genötigt.
«Neurotisch» nannte der Publizist Lothar Baier schon vor Jahren die Opferkultur. Dabei konnte er sich auf den Holocaust-Historiker Peter Novick stützen, der die erstaunliche Adaption jüdischen Opferbewußtseins durch diverse Bevölkerungsgruppen mit den Worten kommentiert hatte: «Everybody is a victim, everybody has a grievance.» daß hinter solchen Einstellungen eine äußerst narzisstische Vorstellung der menschlichen Persönlichkeit steckt und eine intolerante dazu, wobei heftig zu rügen ist, daß so die durchgängig positive Bewertung der Opferposition das Opfer selbst aufhält, um den Status psychisch zu überwinden. Der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink sieht in der Opferkultur eine «verselbständigte Ausformung» der Tendenz zur «Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Sozialen»: Soziale Härten und Schicksalsschläge würden nicht mehr hingenommen, geschweige denn der eigenen Verantwortung zugerechnet. Statt dessen regiere «das Einfordern rechtlicher Korrekturen und Kompensationen».
Schlink zählt zu jenen, die der Auffassung sind, die Opferkultur habe in Deutschland ihren Höhepunkt bereits überschritten. Auslandseinsätze der Bundeswehr und das Schrumpfen des Sozialstaats würden schon dafür sorgen, daß die Idole sich verschöben: weg von der Stilisierung des Opfers, «das man ist», hin zum Lobpreis des lange Zeit verpönten «Opfers, das man bringt». Ob der Opferwille unter den Deutschen wirklich einen Aufschwung erfährt, bleibt abzuwarten. Gern jedoch wüßten wir, als wie breitenwirksam die Aversion gegen Opferstilisierungen einzuschätzen ist. Die Beobachtung, daß der Begriff «Opfer» zum Schimpfwort taugt, läßt sich ja in verschiedenen kulturellen Sphären machen. So üben zum Beispiel auch die linksradikalen Antideutschen aus dem Umfeld der Wochenzeitung «jungle world» hämische Distanz zur Opferkultur. Ihnen geht die Empathie gegen den Strich, welche den Toten des Luftkriegs rückblickend entgegengebracht wird, und die Trauer um das zerbombte Dresden quittieren sie höhnisch: «Deutschland, du Opfer!»
Zeitgeist-Allianzen?
Sollten etwa – bei allem Niveauunterschied – die vielen abwertenden Stimmen letztlich Kinder eines Zeitgeistes sein? Das wäre eine häßliche Vorstellung. Wir müßten dann glauben, daß die Opferverhöhnung, wie sie Gangsta-Rapper und Unterschicht-Jugendliche mit Wonne betreiben, untergründig Verbindung hält mit der intellektuellen Kritik an den Auswüchsen der Opferkultur. Es muß keine nachweisbare Allianz sein. Denkbar wäre ein Mitschwingen in sozialen «vibrations», ein rückgekoppelter Regelkreis sich langsam verstärkender Aversionen. Vielleicht haben wir es mit einem Stimmungswandel zu tun, der durchaus allgemein ist, sich nur eben je nach gesellschaftlichem Standort bald klug und abgewogen, bald brutal artikuliert. Eine fundamentale Differenz der Positionen ließe sich gleichwohl noch markieren. Entscheidend für die Frage, wes Geistes Kind ein Verächter der Opferkultur ist, ist seine Haltung zur «Täterkultur». Höhnt, spottet und kritisiert er nur? Oder geht seine Verachtung einher mit der Billigung von Schikanen und Gewalt?
Die Beschimpfung «Du Opfer», diese Reduktion des Beschimpften auf ein soziales Nichts, strotzt vor solcher Billigung. J. G.