Primärtugenden:

Seit unseren Kinderjahren, ehe unsereiner überhaupt an Führerschein und Straßenverkehr dachte, ging es um den „7. Sinn“ : „Ganz wichtig: Halten Sie Tempobeschränkungen ein, denn der Anhalteweg, der neben dem Bremsweg auch die Reaktionszeit des Fahrers berücksichtigt, erhöht sich überproportional zur Geschwindigkeit.“ Wer in hundert Jahren die Sozialisation der Republik auf den Begriff bringt, wird auf diese Regeln stoßen. Es sind unsere Primärtugenden, die einzigen jedenfalls, denen seit 1966 eine eigene Fernsehsendung gewidmet ist.

Bremsweg und Reaktionszeit

Es ist ja nichteigentlich viel, was da verlangt wurde. Aber heute, irgendwo zwischen den Kilometersteinen 2005 und 2010, haben wir das Gefühl, daß, was jeder dreijährige Tretrollerfahrer in diesem Land eingeschärft bekommt, für die Lenker des Ganzen nicht galt. Wie denkwürdig wirken angesichts der demographischen Verkehrsverhältnisse in unserem Land jetzt manche Aussagen der WDR-Reihe: „Vorsicht! Kinder sind die schwächsten Verkehrsteilnehmer“; oder: „Besonders in Wohngebieten gilt: Kinder sieht man schlecht“. Noch ein paar Kilometer weiter, und man wird sie gar nicht mehr sehen, weil es immer weniger Kinder geben wird.

„Der wichtigste und schwerwiegendste Irrtum über die Natur der demographischen Veränderungen ist der Glaube“, schreibt der Bevölkerungsforscher Herwig Birg, „daß uns ein rascher Wiederanstieg der Geburtenrate auf 1,6 oder 1,8 oder zwei Kinder pro Frau vor dem Schlimmsten bewahren könnte. Aber es ist dreißig Jahre nach Zwölf, heute kann selbst ein Anstieg der Geburtenrate auf die ideale Zahl von zwei Kindern je Frau die Alterung für Jahrzehnte nicht abwenden. Daß es ein demographisches Momentum mit irreversiblen Folgen gibt, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Demographie. Wenn ein demographischer Prozeß ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen.

Wir befinden uns noch nicht einmal in der Phase des Bremswegs, noch läuft überhaupt erst der Countdown der Reaktionszeit. Haben wir schon reagiert? Werden wir reagieren? Wann werden wir reagieren? Politiker, die wissen, daß sie nicht mehr im Amt sein werden, wenn die sich längst abzeichnenden demographischen Folgen zu unübersehbaren sozialen und urbanen Veränderungen geführt haben werden, planen eine Zukunft auf den Grundrissen eines Deutschland, das in den siebziger Jahren vielleicht einmal war, aber längst nicht mehr ist.
Es sei nicht nur den Abstand zwischen Reaktionszeit und Bremsweg beschrieben, sondern auch von Fehlprognosen angesichts verheerender Datenfehler geredet, die in einzelnen Kommunen beispielsweise zu einem statistischen Verschwinden der Neunzigjährigen geführt haben.
Schon hört man, wie einzelne Politiker, die heute am Umbau der Welt arbeiten, sich mokieren über Zeithorizonte wie den folgenden: „Der demographisch bedingte Problemdruck wird sich in den nächsten zehn Wahlperioden mit der irreversiblen demographischen Alterung kontinuierlich verstärken und Deutschland in eine permanente gesellschaftspolitische Großbaustelle verwandeln.“

Wenig Erwachsene, schlecht ausgebildet

Die heute Vierzigjährigen, die große Gruppe der letzten Babyboomer, sind von Eltern in diese Welt gesetzt worden, die zumeist zwischen 1930 und 1933 geboren wurden. Von den jungen Erwachsenen, zu denen Kinder in fünf bis acht Jahren zählen, werden eine gewaltige Zahl weder richtig Deutsch sprechen können noch eine angemessene Ausbildung haben.
Im schlimmsten Fall werden diese ohnehin schon wenigen, schlecht ausgebildeten Erwachsenen dann zusätzlich dem staatlichen Sozialbudget zur Last fallen. Auch hier sind wir noch in der Phase der Reaktionszeit. Wenn wir sehenden Auges eine jungen Erwachsenenpopulation heranreifen sehen, die noch nicht einmal über die elementarsten Bildungsgrundlagen verfügt, aber uns bald erhalten und ernähren soll, müßten wir sofort eine Art „New Deal“ der Bildungspolitik beginnen.

Reden wir über Kinder

Der deutsche Selbsthaß hat in den letzten Jahrzehnten eine Diskussion über dieses Problem verhindert, weil, wer es aufgriff, sofort beschuldigt wurde, klassische Bevölkerungspolitik zu betreiben. Wir müssen nun erkennen, daß der Autonomen-Satz „Nie wieder Deutschland!“ auf unheimliche Weise vollstreckt werden könnte. In der Tat, von Kindern profitieren in unserer Gesellschaft doch nur noch die, die sie nicht haben. Womit ein, das Prinzip unseres politischen Diskurses benannt wäre.

Was ein Mensch wirklich ist – so pathetisch dieses Satz klingen mag – , was also ein geborener Mensch wirklich wert ist, das werden wir alle jetzt erst erfahren. Es müßte uns gelingen, über etwas ganz Einfaches und Naheliegendes zu reden, etwas was nicht jeder hat, aber jeder einmal war. Reden wir über Kinder.

Eckart Würzner, der neue Heidelberger Oberbürgermeister redet nicht nur:

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Er ist fest entschlossen, auch etwas zu tun: Er startet eine Familienoffensive,
legt ein neues Finanzierungsmodell bei der Kleinkindbetreuung vor und strebt eine Versorgungsquote von über 40 Prozent an.

Er will Familien stärken und plant den Ausbau von Betreuungs- und Bildungsplätzen für Kleinkinder unter drei Jahren. Im Rahmen eines Pressegesprächs in der städtischen Kindertagesstätte Kanzleigasse gab er jetzt den Startschuss zur Kampagne „Kinderfreundliches Heidelberg“.

Damit stellte er gemeinsam mit Bürgermeister Dr. Joachim Gerner und Myriam Feldhaus, Leiterin des städtischen Kinder- und Jugendamtes, das neue Heidelberger Kombimodell zur Förderung der Kleinkindbetreuung vor. Bis zum Jahr 2009 sollen in Heidelberg 600 neue Betreuungsplätzen für Kinder bis drei Jahre in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege entstehen. Dafür sind mittelfristig Investitionen von mehreren Millionen Euro vorgesehen. Der Oberbürgermeister wird dieses für Baden-Württemberg in solchem Umfang einmalige Modell Anfang März dem Gemeinderat präsentieren und in den Haushalt 2007/2008 einbringen.

„Schon vor meinem Amtsantritt als Oberbürgermeister habe ich mich fürimg_5636_bearbeitet.jpg ein familienfreundliches Heidelberg stark gemacht. Nun geht es an die Umsetzung, denn der demographische Wandel macht auch vor Heidelberg nicht Halt. Wir möchten gerade jungen Familien ermöglichen, in Heidelberg zu bleiben beziehungsweise nach Heidelberg zu ziehen. Ein wesentlicher Standortfaktor dabei ist ein gutes Bildungs- und Betreuungsangebot in der Stadt“, so Oberbürgermeister Dr. Eckart Würzner. (Foto: Rothe) „In einem ersten Schritt bauen wir – wenn der Gemeinderat dem Konzept zustimmt – unser Betreuungsangebot für Kleinkinder aus, weitere Schritte wie die Zusammenführung der Schulkindbetreuung an den Schulen (wodurch wieder neue Räume für die Kleinkindbetreuung auch in städtischen Einrichtungen entstehen), Schulsanierungen, der Ausbau von Ganztagsschulen, die Schaffung bezahlbaren Wohnraums und vieles mehr werden folgen.“

Mit dem Heidelberger Modell werden die Betreuungsplätze für Kinder unter vier Jahren in zwei Stufen ausgebaut: Zum Kindergartenjahr 2007/2008 sind 300 neue Plätze (200 Plätze in Kindertageseinrichtungen und 100 Plätze in der Kindertagespflege) geplant, wodurch die Versorgungsquote von derzeit rund 25 Prozent auf 35,5 Prozent erhöht wird. Für das Kindergartenjahr 2008/2009 sind noch einmal 300 Plätze vorgesehen. Damit wird ein Versorgungsgrad von 44 Prozent erreicht. Schon heute nimmt Heidelberg einen Spitzenplatz ein – landesweit gibt es nur für neun Prozent der Kinder unter drei Jahren einen passenden Betreuungsplatz. In den westlichen Bundesländern können durchschnittlich 10 Prozent der Kleinen professionell betreut werden, im gesamten Bundesgebiet sind es 14 Prozent. Die östlichen Bundesländer liegen hier mit einer durchschnittlichen Versorgungsquote von 40 Prozent deutlich vorn.

img_5624_bearbeitet.jpgDie neuen Betreuungsplätze für Kleinkinder sollen in Heidelberg vorwiegend in Einrichtungen der freien Träger und in der Kindertagespflege geschaffen werden. Tagespflege ist die Betreuung eines Kindes bei einer qualifizierten Tagesmutter über einen Zeitraum von länger als drei Monaten außer Haus und mehr als 15 Stunden die Woche. Die Tagesmütter sind fachlich geschult und erhalten demnächst in der ganzen Metropolregion nach erfolgreichem Schulungsabschluss einen Qualitätspass. So soll zukünftig auch im Bereich der Tagespflege ein qualifizierter Betreuungs- und Bildungsstandard gewährleistet werden.

Die Finanzierung erfolgt über ein so genanntes Kombimodell: zum einenimg_5618_bearbeitet.jpg sollen die städtischen Zuschüsse an die freien Träger deutlich angehoben werden. Zum anderen werden Eltern durch ein neues Gutscheinsystem, das auch für die Tagespflege gilt, unmittelbar entlastet. Die Eltern erhalten einen Gutschein über einen bestimmten monatlichen Betrag, der anteilig zur Finanzierung der Betreuung ihres Kindes in einer Einrichtung oder bei einer Tagesmutter beiträgt. Die genaue Ausgestaltung des Gutscheinmodells, ob einkommensabhängig gestaffelt oder mit festgelegten Zuschüssen für bestimmte Betreuungszeiten, werden die Haushaltsberatungen abschließend zeigen. Der Gemeinderat hat hier für 2007/2008 über ein Volumen von mehreren Millionen Euro zu entscheiden. Am kommenden Wochenende gehen der Oberbürgermeister mit dem (gesamten!) Gemeinderat in Klausur. Seien wir guter Hoffnung …



Feb. 2007 | Allgemein | 1 Kommentar