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Entscheiden, was zur Entscheidung vorgelegt wird – das ist die zentrale Funktion des Rechts und der rechtsprechenden Gerichte. Die Rechtsordnung folgt dabei ihren eigenen Regeln und Standards; sie ist insoweit ein geschlossenes System – in dem, allerdings, auch die Tugend der Gerechtigkeit in Erscheinung tritt: in Gestalt des Richters.
Über «Gerechtigkeit» oder «Justitia» nachzudenken, verlangt, zwei Perspektiven zu trennen. Denn es ist in der Tat ganz und gar nicht daßelbe, ob man von Gerechtigkeit unter dem sehr grundsätzlichen Aspekt der (vermutlich anthropologisch verankerten) Notwendigkeit handelt, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden; oder ob man Justitia unter dem Aspekt der Tatsache betrachtet, daß die Rechtsprechung im Rahmen der modernen Staatlichkeit erst seit relativ kurzem als ein ausdifferenziertes, eigenes und in gewisser Hinsicht auch geschlossenes soziales System für die Bearbeitung genau jenes Unterscheidungsproblems funktioniert.

Goethe karikierte Praxis des Reichskammergerichtes zu Wetzlar

Die wichtigste Funktion des Systems des Rechts, in dessen Zentrum die Gerichte stehen, ist: sicherzustellen, daß entschieden wird, was zur Entscheidung vorgelegt wurde. Und das meint erstens, daß nichts offengelassen und auf den ewigen Weg zur wahren Gerechtigkeit geschickt werden darf. Zweitens bedeutet der Entscheidungszwang, der zum modernen System des Rechts grundlegend gehört, daß das fällige Urteil stets einigermassen rechtzeitig gesprochen wird, also nicht allein in the very long run, demgemäss wir, nach Keynes‘ Wort, ja bloss sicher sein können, irgendwann tot zu sein. Und nicht nur als Leser von Kafkas «Prozess» wissen wir, daß diesem Entscheidungszwang und seinem immanenten Sinn zu genügen, so wichtig wie schwierig ist.
Für die Erkenntnis der Leistung des modernen Rechtssystems ist es daher aufschlussreich, jene von Goethe karikierte Praxis des Reichskammergerichtes zu Wetzlar zu erinnern, der höchsten Justizinstitution des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, an welcher der junge Dichter bekanntlich einige Monate als Referendar zubrachte: Zwanzigtausend Fälle hatten sich zu seiner Zeit angestaut, und lediglich sechzig wurden jährlich bearbeitet. Manche Verfahren dauerten über ein Jahrhundert. Richter, Kläger, Anwälte waren dann bei der Urteilsverkündung normalerweise schon in der dritten Generation mit dem Fall beschäftigt – und mancher der Beteiligten wird sich wohl gewundert haben, wenn er von einer Universität ein Gutachten bekam, welches der Vorgänger dreissig Jahre zuvor in Auftrag gegeben hatte.
Damit Gerichte und das durch sie operierende System des Rechts tun können, wozu sie da sind, nämlich gewisse Verhaltenserwartungen der Gesellschaft und damit diese selbst, auch unter Bedingungen dauernden Wechsels, stabil zu halten, braucht es allemal rechtzeitige Entscheide, die zugleich auch einigermassen plausibel und rational akzeptabel sein sollten. Diese Forderung bringt nun aber sogleich einen methodischen Verzicht mit sich: Wenn man Gerichte sowohl dem Entscheidungszwang wie der Erwartung aussetzt, rational akzeptable und dem jeweils gegebenen Rechtsempfinden nicht völlig widersprechende Urteile zu fällen, dann darf man an die Logik ihrer Argumentation nicht übertriebene Ansprüche stellen. Man wird ihnen nachsehen müssen, wenn sie sich immer wieder an bewährte und vor allem an formale Prinzipien halten, die die Entscheidungsfindung – gelegentlich auf Kosten von allerlei gefühlsmässigen Bewertungsimpulsen – abkürzen oder überhaupt erst möglich machen.

Beweislast vs. Rechtskraft

d_karikatur.gif Ein schönes Exempel bietet die Beweislastvertei- lungsregel. Sie sagt, wer für seine Behauptung die nötigen Gründe vorzulegen hat und wer das nicht zu tun braucht. Fast immer bedeutet die Befreiung von der Beweislast für die begünstigte Partei einen ähnlichen Vorteil, wie ihn im Tennis der Aufschläger besitzt. Aber während im Tennis diese Chance nicht bei einer Seite verbleibt, ist das hier eben anders. Wer nicht hinreichend triftig zu belegen vermag, was er vor Gericht vorbringt, der hat verloren, selbst wenn Dritte noch so berechtigt oder verständlich dünkt, was er verlangt.
Auf ein anderes Beispiel für die kaum zu unterschätzende Wichtigkeit des Entscheidungszwanges verweist Niklas Luhmann (dessen Rechtstheorie jeden Rechtskundigen entzücken muss, so präzise, nüchtern und ironisch luzide ist sie): «Die Diskrepanz zwischen Entscheidungszwang und der (stets erhofften) Möglichkeit, zu überzeugenden Entscheidungen zu kommen, findet (. . .) in der Institution der Rechtskraft Ausdruck.» Eine Feststellung, die Luhmann dann so kühl wie sarkastisch folgendermassen kommentiert: «So fragwürdig eine Entscheidung sein (. . .) mag, sie wird durch Rechtskraft von einem dauernden Infragestellen entlastet.
Das macht die (kaum je zu umgehende) Einbeziehung von Entscheidungsfolgen in die Entscheidungsfindung und -begründung zugleich harmlos und riskant; harmlos deshalb, weil die Folgen im Zeitpunkt der rechtskräftigen Entscheidung noch in der unbekannten Zukunft liegen; und riskant eben deshalb. Gegen die Erwartung eintretende oder nicht eintretende Folgen können an der Entscheidung nichts mehr ändern. Sie mag sich nachträglich als Fehlspekulation erweisen, gilt aber trotzdem und kann auch, anders als (die) Gesetze (die das politische System erläßt), nicht im Hinblick auf einen neuen Folgenmix geändert werden.»

Geschlossenes Universum

Auf die letztlich systembildende Konsequenz des Entscheidungszwanges und des Verbotes der Justizverweigerung sei noch eingegangen. Nämlich auf die Tatsache, daß dieser Entscheidzwang dafür sorgt, daß das System des Rechts als ein hinsichtlich seiner Basisannahmen und Geltungsgründe geschlossenes Universum begriffen werden muß. Gewiss, es ist das politische System, es sind in der Schweiz das Parlament, das Volk und die Stände, die die Gesetze vorgeben, in deren Rahmen die Justiz agiert. Doch innerhalb dieses Raumes ist es einzig und allein die rein juristische Argumentation, sind es ihre Regeln und Standards, die verbindlich zu erklären haben, welche Interpretationsspielräume noch zumutbar sind und welche Abweichungen eines Verfahrens oder eines Gesetzesverständnisses zurückgewiesen werden müssen.
Am Ende also gilt: Es ist das System des Rechts, allein sein Gutdünken, das darüber entscheidet, «rechtskräftig» bestimmt, was Recht im Einzelnen ist und was Unrecht; es sind die Gerichte und keine andere Instanz sonst, weder die Politik noch das Volksempfinden, noch die klugen Argumente der Philosophen.

Idee der Rechtsstaatlichkeit

Zur Idee der Rechtsstaatlichkeit gehört die Idee der getrennten und geteilten Gewalten. Und aus vielerlei Gründen leuchtet unmittelbar ein, daß um dieser Machtregulierung und -kontrolle der öffentlichen Potenzen willen die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Justiz ein fundamentaler Baustein aller freiheitlichen Ordnungskonzepte ist. Ebenfalls aus der Gedankenverknüpfung, die zwischen der liberalen Notwendigkeit, ungeteilte Machtausübung zu verhindern, und der Voraussetzung der Unabhängigkeit und relativen Souveränität der Justiz besteht, ergibt sich die Einsicht in die – sagen wir es provokativ – aristokratische Struktur des Gerichtswesens und seiner Operationsform.
Das Volk, der Demos, und das politische System im engeren Sinn der gesetzgebenden und administrativen Gewalt regieren mit und nach der Mehrheitsregel, mit und nach der Logik der Ausmittelung konkurrierender Interessen, mit und nach der Meteorologie populärer Stimmungslagen; all das darf – im Prinzip – die Justiz und ihre Repräsentanten nicht beeindrucken. Ihre Aufgabe der Auslegung, Anwendung und konkreten Definition von Recht hat sie allein nach ihren eigenen Regeln, Prinzipien und Traditionen zu lösen und gemäss bestem Wissen und Gewissen, d. h. im Sinne der Amtsethik derjenigen wenigen, die in ihrem Funktionskreis tätig sind. Und genau das ist es eben, was man die «aristokratische Struktur» des Gerichtswesens nennen darf. Im Gedanken der Unparteilichkeit, so darf man mit leichter Übertreibung sagen, konzentriert sich alles, was bisher herausgestellt worden ist: das Verbot der Justizverweigerung; die Unabhängigkeit des Richters; die Amtsethik, die dieser Funktion entspringt; der quasiaristokratische Charakter der Gerichtsgewalt – und der elementare Gerechtigkeitsbezug, der diese Gerichtsgewalt an die Norm der primären Menschengleichheit bindet.

Moralische Einsicht

Abschließend sei noch die Frage aufgeworfen, ob wir im eigentlichen Sinne «gerecht» nicht eben den nennen, dem wir die Richterrolle anvertrauen möchten. Was heisst das aber? Was kennzeichnet den «guten Richter»? Die Vorstellung von einem solchen Menschen läßt sich nach vier Hinsichten präzisieren: Vom gerechten, also unparteilichen Richter verlangt man, daß er über eine genügende (wenn auch nicht überdurchschnittliche) Intelligenz verfügt, eine gewisse Lebenserfahrung besitzt, über die wesentlichen Tatsachen der Welt informiert ist, vor allem aber, daß ihm die Tugend der intellektuellen Revisionsbereitschaft und die Tugend der moralischen Einsicht eignen.
Der intellektuellen Tugend der Revisionsbereitschaft entspricht, wer – trotz einer gewissen Festigkeit in der eigenen Urteilsbildung – gewillt bleibt, «seine Meinung, die er sich zu einem Problem gebildet hat, im Lichte weiterer Befunde und Argumente, die ihm in der Diskussion vielleicht präsentiert werden, neu zu überdenken». So sagt es John Rawls in seinem Buch «Justice as Fairness». Die entscheidende Eigenschaft des unparteilichen Richters im emphatischen Sinn der universal gültigen Gerechtigkeitsidee wird allerdings erst mit der Tugend der moralischen Einsicht sichtbar. Sie ist nämlich, um noch einmal Rawls zu zitieren, «nichts anderes als die Fähigkeit zur Fairness, d. i. das Vermögen und der Wille, die eigenen faktischen Präferenzen nicht als unbedingt gültigen Massstab des tatsächlichen Wertes der zu beurteilenden Interessen zu betrachten, sondern sich vorzustellen, was jene Interessen den Personen bedeuten, die sie teilen, und sie demgemäss zu beurteilen».
Die Tugend der moralischen Einsicht besteht also im Wesentlichen darin, daß sich einer darauf eingestellt hat, jedes einzelne Interesse mit derselben Sorgfalt zu würdigen, wie wenn es sein eigenes wäre, und also nur so zu bestimmen, was Recht und Unrecht ist, indem er fragt, was er für Recht oder Unrecht hielte, wenn jedes der beteiligten Interessen so vollständig sein eigenes wäre, wie es tatsächlich das eines Mitmenschen ist. Wer aber aufgrund solchen Nachdenkens sein Urteil fällt, ist – selbst wenn ihn sein Amt heraushebt aus der Mehrheitslogik der politischen Bürgerschaft – im Kern immer Demokrat: Weil er jeden und jede als gleichwertig und ebenbürtig achtet.

Der Autor Georg Kohler ist Ordinarius für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der politischen Philosophie. Letzte Buchpublikation: «Über das Böse, das Glück und andere Rätsel. Zur Kunst des Philosophierens» (Verlag Rüffer & Rub 2005).

Feb. 2007 | Allgemein | Kommentieren