Unter www.abgeordnetenwatch.de dürfen sie öffentlich befragt (und „abgewatcht“) werden. Auch die Antwort ist öffentlich. Keine Antwort auch. Tolle Sache! Gibts da nicht einiges zu fragen? Tun Sie es!
Der kluge Politiker «muß können simulieren und dissimulieren und, wenn er eine Staats- und Nothlüge redet, nicht roth werden». So steht es in einem 1714 erstmals erschienenen Ratgeber des Polyhistors, Theologen und Philosophen Christoph August Heumann. Das nützliche Buch trägt den Titel: «Politischer Philosophus. Das ist, vernunfftmäßige Anweisung zur Klugheit im gemeinen Leben». So ungefähr steht es in noch vielen anderen Erzeugnissen der politischen Klugheit des 18. Jahrhunderts; und so ähnlich findet man die Empfehlung selbstredend auch zwei Jahrhunderte früher bei Niccolò Machiavelli in seiner politiktechnischen Handreichung für den machtbewußten Renaissancefürsten.
Sich verstellen, so tun als ob und mit der Wahrheit hinterm Berg halten – das darf zum Verhaltensrepertoire des Politikers und Staatslenkers freilich nur dann gehören, so sagen uns die Klugheitslehren von ehedem, wenn es dem allgemeinen Besten, dem Gemeinwohl oder wenigstens der Staatsräson dient. Woran aber erkennt der politische Lügner das? Wie kann er sich vergewissern, daß er lügend nicht nur dem eigenen Machterhalt zuarbeitet, sondern einen «höheren» Zweck tatsächlich verfolgt? Zweifel scheinen auch den ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány erfaßt zu haben, als er seine unlängst bekannt gewordene «Lügen-Rede» vor Parteifreunden hielt. In derber Sprache gab er zu, beinahe daran «verreckt» zu sein, «anderthalb Jahre lang so tun zu müssen, als ob wir regiert hätten. Stattdessen logen wir morgens, mittags und abends.» György Konrád, Schriftsteller und Landsmann des Ministerpräsidenten, hat in dem verzweifelten Ton «etwas Großes» wahrgenommen, den Mut eines Lügners, der versucht, kein Lügner mehr sein zu wollen.
Motive
Es nicht mehr sein wollen ist leichter als es nicht mehr sein. In diesem Fall nämlich gilt: Kein Sein ohne Glaubwürdig-Sein. Wer einmal lügt – weiß das Sprichwort -, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Wieso aber simulieren und dissimulieren, flunkern und lügen Politiker, wenn Nutzen und Nachteil der Verstellung sich nicht klar unterscheiden, wenn sie sich weder mit einer Klugheits- noch gar mit der Schieblehre vorausberechnen lassen? Aus denselben Gründen, mag man schulterzuckend antworten, aus denen auch Menschen, die keine Berufspolitiker sind, nicht die Wahrheit sagen.
Hält man sich an psychologische Expertisen und vulgärpsychologische Mutmaßungen, dann wären die beliebtesten Gründe oder Motive für ein Leben in der kleinen, alltäglichen Unwahrheit wohl diese: sich Ärger ersparen wollen, gemocht werden wollen, Bequemlichkeit – und Höflichkeit. Ja, die Höflichkeit; sie gebeut schon den Nachwachsenden, den trockenen Sandkuchen der Großtante wahrheitswidrig als köstliche Speise zu preisen.
Die Balken biegen sich also nicht nur in den Lügengebäuden der Politik. Aber dort besonders, da die genannten und manche ungenannte Beweggründe in dieser Sphäre mit dem Motiv des Machterwerbs und -erhalts ein schwer auflösbares Amalgam bilden. Von der innigen Verbindung des Politischen mit einem «kreativen Wahrheitsmanagement» künden auch die mit ermüdender Regelmäßigkeit gebrochenen «Wahlversprechen» oder gar die vorsätzlichen «Wahllügen».
Wer sich mit einer solchen Psychologie des Nächstliegenden nicht zufriedengeben und auch nicht in einer Anthropologie des nun einmal von Natur aus lügenhaften Menschenwesens sein Unheil suchen möchte, kann einem Hinweis Hannah Arendts folgen. Die Philosophin, deren Geburtstag sich gerade zum hundertsten Male jährte, hat in ihrem auf Deutsch 1969 publizierten Essay über «Wahrheit und Politik» eine auf den ersten Blick verblüffende Verwandtschaft registriert: die «Verwandtschaft zwischen dem menschlichen Vermögen, Dinge zu ändern, und der rätselhaften Fähigkeit, zu sagen: ‹Die Sonne scheint›, während es draußen Bindfäden regnet.» Arendt fährt fort: «Wäre unser Verhalten wirklich so bedingt, wie manche Verhaltensforscher sich einreden, so würden wir wohl nie imstande sein, dies kleine Mirakel zu vollbringen. Das aber heißt, daß unsere Fähigkeit zu lügen ( … ) zu den wenigen Daten gehört, die uns nachweislich bestätigen, daß es so etwas wie Freiheit wirklich gibt.»
Freiheit und Wirklichkeit
Wer – würde das heißen – lügt, erkennt bestimmte Tatsachen nicht als Tatsachen an, jedenfalls nicht als «notwendige». So stellt er seine Freiheit unter Beweis. Oder anders: Wer lügt, handelt; und wer lügend handelt, verändert die Welt. Vielleicht also lügt bisweilen, wer politisch handelt, weil er die Welt verändern will – und sie, ohne zu lügen, nicht verändern zu können glaubt. Jedoch: Wer lügt, könnte mehr Erfolg haben, als ihm lieb ist. Wer jedenfalls «konsequent» oder «systematisch» lügt, verändert die Welt bis zur Unkenntlichkeit. Das Lügengespinst, in das er sich nach und nach einhüllt, schirmt ihn von der Wirklichkeit, die er mit anderen teilt, ab. Der Betrug wird zum Selbstbetrug, die Täuschung zur Selbsttäuschung, die Freiheit zur Unfreiheit.
Wer lügt, muß eine wache Beziehung zur Wahrheit unterhalten, um seine Lüge kaschieren zu können.
Diese wache Beziehung läßt sich für Abgeordnete herstellen. tno