Hat der radikale Islamismus das Zeug dazu, die Verlierer dieser Welt unter seinem Banner zu scharen? Ist er imstande, zum Sammelbecken der Frustrierten aller Länder und damit zum weltpolitischen Nachfolger des Kommunismus zu werden? Peter Sloterdijk wirft derlei Fragen gegen Ende seines neuen Buches auf, das ein politisch-psychologischer Versuch über das Thema «Zorn und Zeit» sein will.

Einige Beobachtungen scheinen zunächst für eine bejahende Antwort zu sprechen. Der ebenso sprach- und phantasiebegabte wie zum heiteren Zynismus neigende Autor nennt drei «Vorzüge» des Islamismus: die diesem innewohnende «mitreißende Missionsdynamik», sein «übersichtliches, kampfbetontes und grandios-theatralisches ‹Weltbild›» und schließlich drittens, aber am wichtigsten: die demographische Dynamik seines Rekrutierungsfeldes. Wie die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts sei der Islamismus eine «Jungmännerbewegung».
Sloterdijk lehnt sich, was den dritten Aspekt betrifft, an den Soziologen Gunnar Heinsohn an, der derzeit mit einer bevölkerungsstatistischen These über den mutmaßlichen Zusammenhang von Männerüberschüssen und Gewalt das grassierende Bedürfnis nach einfachen Erklärungen befriedigt. Doch wie zahlreich die «gewalthungrigen Gottsucherbanden» auch sein mögen – zu einer Weltzentrale, in der der Zorn aller Erniedrigten und Beleidigten gesammelt, gebündelt und gegen den globalen Kapitalismus oder den «Westen» ins Feld geschickt würde, werde der Islamismus es nicht bringen. Eine «desperate Bewegung aus ökonomisch Überflüssigen und sozial Unverwendbaren» sei dazu ausserstande.
Doch geht es Sloterdijk in dem (autortypisch) ins Kraut geschossenen Essay nicht zuvörderst um die «genozidschwangeren Jungmännerüberschüsse» und schon gar nicht um die Frauen, die nur als Gebärerinnen von Überflüssigen in Betracht zu kommen scheinen. Ihm schwebt so etwas wie eine politische Psychologie des Zorns vor, die «die von Nietzsche in Angriff genommene Arbeit» wiederholt und – besser macht. Besser als der Analytiker des Ressentiments macht Sloterdijk es schon allein deswegen, weil er im Christentum nicht die Rache der Zukurzgekommenen, sondern eine zivilisationsförderliche «Ethik des Racheaufschubs» am Werk sieht. Freilich will er weniger das Christentum rehabilitieren als vielmehr den aus Hellas stammenden Zorn, den der Eingangsvers der «Ilias» besingt. Eine von Rachsucht freie «Ambitionskultur» soll den lebensdienlichen Zorn als Primärimpuls gegen den mit Geld und Gier im Bunde stehenden «Eros-Pol» unserer Zivilisation stärken. – Ein Weltverbesserungsprojekt ist dies, das in seiner theoretischen Ausführung hinter der Ambition seines Urhebers allerdings deutlich zurückbleibt. J.W.
Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006. 356 Seiten.

Jan. 2007 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren