Jeder Benutzer der Bibliothek eines mineralogischen Instituts kennt die Rücken des 18-bändigen (60 cm Regallänge) „Atlas der Krystallformen“ von Victor Goldschmidt. Nur wenige wissen jedoch, dass dessen Autor nicht der berühmte Geo- und Kristallchemiker Victor Moritz Goldschmidt (1888 – 1947) ist, sondern

victor-goldschmidt.jpg Victor (Mordechai) Goldschmidt (1853 – 1933), der ebenfalls bedeutende Beiträge zur Kristallographie geleistet hat. (Die Angabe in der Brockhaus Enzyklopädie, dass Victor Mordechai Goldschmidt ein Onkel von Victor Moritz Goldschmidt sei, ist nicht richtig).
Victor Mordechai Goldschmidt wurde am 10. 2. 1853 als fünftes von sieben Kindern in Mainz geboren; sein Vater, Salomon Benedikt Goldschmidt (1818 – 1906), betrieb einen Eisenhandel en gros und ein Bankgeschäft; seine Mutter Josephine Porges, Edle von Portheim (1822 – 1869), entstammte – wie auch Victor Mordechais spätere Frau Leontine – einer wohlhabenden Prager Familie, die, aus kleinsten Verhältnissen heraus, in kürzester Zeit zu den führenden Industriellen Böhmens zählte und es zu großem Wohlstand brachte. – Josephines Vater, Leopold Juda Porges (1785 – 1869), war Sohn unbemittelter Eltern und betrieb zunächst einen kleinen Liqueur-Handel. Mit seinem Bruder Moses Porges (1781 – 1870) gründete er 1808 in einem dunklen Keller der Prager Altstadt einen Baumwoll-Druck-Laden mit nur einem Druckstock. Durch Fleiß und Geschick wuchs das Unternehmen rasch, und bereits im Jahre 1843 beschäftigte die Firma „Porges Brothers“ 700 Arbeitnehmer. Nach einer Werksbesichtigung durch den österreichischen Kaiser Ferdinand I. wurde den Porges-Brüdern die Wahl zwischen einem Orden oder einem Adelstitel angeboten. Sie antworteten, dass sie eine solche Ehre nicht annehmen möchten, solange sie, als Juden, nicht dieselben Bürgerrechte besäßen, derer sich der letzte ihrer Arbeiter erfreut. Der Appell verhallte im zuständigen Ministerium ungehört, und die Brüder wurden 1841 in den erblichen Adelsstand als „Edle von Portheim“ erhoben.
Nach dem Abitur in Mainz (1870) begann Victor Goldschmidt auf Wunsch seines Vaters – die Familie besaß Hüttenwerke – ein Ingenieurstudium an der Gewerbeakademie Berlin. Nach zwei Semestern vertauschte er die hektische Großstadt mit dem stillen Freiberg in Sachsen und bestand dort 1874 sein Examen als Hütteningenieur. Dort leistete er auch seinen Militärdienst ab; später wurde er Oberleutnant der Reserve. Im Rahmen seines Studiums in Freiberg hatte er besondere Freude an den Vorlesungen des Mineralogen Albin Weisbach. Goldschmidt beschreibt später begeistert die bezaubernde Atmosphäre der Kleinstadt und der Bergakademie, über der immer noch der Atem Abraham Gottlob Werners wehte; Weisbach hütete wie ein Hohepriester das Andenken an Werner, besonders den Raum, der Werners private Mineralsammlung barg. Dem von Goldschmidt hochverehrten Weisbach widmete er sein erstes großes Werk, den „Index der Kristallformen“, und später, 1902, verfasste er den Nachruf für Weisbach im Centralblatt für Mineralogie. – Von 1875 bis 1879 arbeitete er als Assistent für Hüttenkunde bei H. Th. Richter, Professor für Lötrohrprobierkunst an der Bergakademie Freiberg, der gemeinsam mit Ferdinand Reich das Element Indium entdeckt hat. – Goldschmidts Jahre in Berlin und Freiberg wurden ausführlich von H. J. Rösler (2004) beschrieben.
Von 1878 bis 1882 studierte er in München, wo er vorwiegend chemische Vorlesungen, u.a. bei v. Baeyer und O. und E. Fischer hörte. 1879 ging er nach Heidelberg, wo er 1880 bei Harry Rosenbusch mit einer Arbeit „Über Verwendbarkeit einer Kaliumquecksilberjodidlösung bei mineralogischen und petrographischen Untersuchungen“ promovierte. 1882 bis 1887 war er in Wien, wo er sich unter dem Einfluss von Aristide Brezina (k.k. Naturhistorisches Hofmuseum) und Heinrich v. Foullon (k.k. Geologische Reichsanstalt) zunehmend der Kristallographie zuwandte. Hier veröffentlichte er den ersten Band seines „Index der Kristallformen der Mineralien“.
1888 kehrte er zurück nach Heidelberg und habilitierte sich mit seiner, bereits 1887 erschienenen, Arbeit „Über Projektion und graphische Krystallberechnung““.
Im Herbst 1888 heiratete er seine 10 Jahre jüngere Cousine Leontine Porges, Edle von Portheim (1863 – 1942), aus Prag, die ihm eine treu sorgende und kongeniale Lebensgefährtin und Mitarbeiterin wurde; sie war eine Tochter des Textilfabrikanten Eduard Porges, eines Bruders seiner Mutter Josephine. – Goldschmidt war im jüdischen Glauben aufgewachsen und konvertierte um diese Zeit zum Christentum, vielleicht, weil seine Frau katholische Christin war.
Das Ehepaar bezog in Heidelberg eine Villa in der Gaisbergstraße 9, wo sie bis in die dreißiger Jahre wohnen blieben. Das Haus fiel später einigen der wenigen Bomben, die im Verlauf des zweiten Weltkriegs auf Heidelberg fielen, zum Opfer. – Sein ererbtes Vermögen und insbesondere dasjenige seiner Frau ermöglichten es Goldschmidt, dort ein selbstfinanziertes, privates „Mineralogisch-Kristallographisches Institut” einzurichten, das 1895 in das erste Obergeschoss des Hauses Hauptstraße 48 verlegt wurde.
1893 wurde Goldschmidt zum außerordentlichen Honorarprofessor der Universität Heidelberg ernannt und 1909 vom Großherzog von Baden zum ordentlichen Honorarprofessor.
Goldschmidt scharte bald zahlreiche Schüler und „Post-Docs“ aus dem In- und Ausland um sich. Darunter seien einige prominente genannt: Robert Schröder (der Goldschmidts Werk und seine Methoden später in Heidelberg fortführte; 1950 erschien im Springer-Verlag sein Buch „Krystallometrisches Praktikum“), C. Palache (USA), A.E. Fersman (Russland), Mary W. Porter (England) und M.A. Peacock (Kanada).
1894/95 machte das Ehepaar Goldschmidt eine Weltreise (über USA und Kanada nach Japan, China, Ceylon, Indien und Ägypten), von der sie zahlreiche ethnographische Stücke mitbrachten, die den Grundstock der späteren Sammlungen des Völkerkundemuseums bildeten.
1916/1919 gründete das Ehepaar Goldschmidt die „Josephine und Eduard von Portheimstiftung für Wissenschaft und Kunst“, zu Ehren der Mutter des Stifters und des Vaters der Stifterin mit dem Zweck, “in der Förderung von Wissenschaft und Kunst der Heidelberger Universität helfend zur Seite zu stehen durch Schaffung von Instituten, Sammlungen und Forschungsmöglichkeiten …“. Im Rahmen dieser Stiftung wurden gegründet: das ethnographische Institut, in das die umfangreiche private Sammlung der von den beiden Goldschmidts zusammengetragenen völkerkundlichen Sammlungsstücke eingebracht wurde und das heute noch als „Völkerkundemuseum der von-Portheim-Stiftung“ existiert; das Anthropologische Institut; das Biomechanische Institut; das Institut für Volkskunde und Volkskunst; das Prähistorische Museum. Das kristallographische Privatinstitut Goldschmidts wurde 1919 in die Stiftung eingebracht. Die meisten dieser Institute existieren heute nicht mehr, weil die Kostensteigerung nach dem ersten Weltkrieg mit den Mitteln der Stiftung nicht mehr aufgefangen werden konnte. Daher ging die Stiftung schon 1919 in die Obhut des Landes Baden über. Um seiner Stiftung ein würdiges Domizil zu schaffen, erwarb Goldschmidt 1922 aus dem Besitz des Prinzen Wilhelm von Sachsen-Weimar-Eisenach dessen Palais in Heidelberg in der Hauptstraße 235, das bis heute als Palais Weimar bekannt ist und wo auch heute noch das Völkerkundemuseum untergebracht ist.
Zur Veröffentlichung seiner fachwissenschaftlichen Beiträge gründete Goldschmidt 1913 die Zeitschrift „Beiträge zur Kristallographie und Mineralogie“. Zur Förderung auch anderer Ergebnisse – aber wesentlich Heidelberger Ursprungs – begründete er 1922 die „Heidelberger Akten der von-Portheim-Stiftung“. Im Jahr 1917 wurde Goldschmidt zum geheimen Hofrat ernannt.

Der Ausbruch und Verlauf des ersten Weltkriegs hatte Goldschmidt in eine ernste psychische Krise gestürzt. Depressive Phasen machten zeitweise sogar stationäre Aufenthalte in Kliniken erforderlich. Er überwand die Krankheit nicht zuletzt durch den liebevollen Beistand seiner Frau. – Die Inflation und das Erstarken eines Antisemitismus in den zwanziger Jahren erfüllte das Ehepaar mit ernsten Sorgen. Goldschmidt war zu schwach, sich eines Assistenten zu entledigen, der nach seinem Tode Leiter seines kristallographischen Instituts wurde, NSDAP-Mitglied war und eine intrigante Rolle spielte. Goldschmidt war Ende der zwanziger Jahre als Vorsitzender des Kuratoriums der Portheim-Stiftung schon praktisch entmachtet und musste tatenlos zusehen, wie die Völkerkunde zunehmend in eine Rassenkunde im Sinne der national?sozia?listischen Ideologie umgemünzt wurde.

1933 beschloss das Ehepaar Goldschmidt daher, den 80. Geburtstag Victors nicht in Deutschland zu verbringen; sie fuhren nach Salzburg, wo sie im Salzburger Hof wohnten. Dort erkrankte Goldschmidt an einem Magenleiden, wahrscheinlich Magengeschwüren, die, gefolgt von einem Magendurchbruch, zu seinem Tod am 8. Mai 1933 führten. Den an seine Heidelberger Adresse gerichteten Einschreibebrief mit der Mitteilung, dass er gemäß Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums als Nichtarier entlassen worden sei, hat ihn nicht mehr erreicht. – Seine Asche wurde auf dem Heidelberger Bergfriedhof beigesetzt.

Sein privates Kristallographisches Institut wurde 1938 dem Mineralogisch-Petrographischen Institut der Universität angegliedert. Seine Frau erlebte während der Nazi-Herrschaft schreckliche Jahre der Demütigung, Sperrung ihres Vermögens, Ausweisung aus ihrer Wohnung, entwürdigende Kennzeichnungspflicht, Schikanen von Polizei und Partei, Beschimpfungen und bittere Enttäuschung über das Abwenden langjähriger Bekannter. Sie nahm sich am 25. August 1942, dem Tage, an dem sie nach Theresienstadt deportiert werden sollte, das Leben. Ihr gesamter Haushalt, der auch den wissenschaftlichen Nachlass ihres Mannes enthielt, geriet in die Hände der Gestapo. Auf ein Gesuch des Heidelberger Mineralogischen Instituts hin wurde lediglich ein Teil des Nachlasses übergeben; der andere Teil ist verloren gegangen.

Soweit also, was wir wissen. Aber, wir müssen auch denken dürfen. Und tun es! Wir bleiben dran an dieser Heidelberger Geschichte. Versprochen …

Jan 2007 | Allgemein, Feuilleton, Zeitgeschehen | 1 Kommentar