mueller.jpgAlbrecht Müller, 68, hat mit „Machtwahn“ erneut einen Bestseller geschrieben. Wie schon in „Reformlüge“ setzt er sich mit dem Versagen aktueller Wirtschaftspolitik auseinander. Der SPDler war Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt bei Willy Brandt und Helmut Schmidt, saß bis 1994 im Bundestag und war ehemals Heidelberger SPD OB-Kandidat …
Deutschland 2006 – es steht schlecht da, sagen fast alle. Albrecht Müller ärgert das. Denn er weiß, wie es ökonomisch vorwärts ginge: Schulden machen wie die USA.

Albrecht Müller, Sie lassen schon lange an der Politik der SPD kein gutes Haar, dennoch sind Sie immer noch Mitglied dieser Partei? Ihre Argumente hingegen stützen aber eher Oskar Lafontaine und seine Linkspartei.

Ach, wissen Sie, ich bin seit 43 Jahren in der SPD, da gibt es noch viele, die denken wie ich. Mit ihnen hoffe ich darauf, daß es wieder zu einem Kurswechsel kommt.

Gibt es noch jemand aus dem SPD-Vorstand, der nicht gleich den Hörer auflegt, wenn Sie anrufen?

Ich rufe nicht an. Kritische Köpfe sind dort nicht gefragt. Meine Kolumne im Parteiblatt „Vorwärts“ wurde gestrichen, vermutlich, weil mein Buch „Reformlüge“ zu kritisch gegenüber der Regierung Schröder war.

Für welche Partei haben Sie denn bei der Bundestagswahl votiert?

Da gilt das Wahlgeheimnis.

machtwahn.jpgSie behaupten, führende Persönlichkeiten der Wirtschaft würden am „bewußt gewollten Niedergang“ arbeiten, und die Parteien seien „nur noch Werkzeuge der Finanzindustrie“. Glauben Sie ernsthaft, es gebe eine Verschwörung in Wirtschaft und Politik, die Deutschland in den Ruin treiben will – und wer sollte das sein?

Gewiß nicht die Einzelhändler, Handwerker oder die mittelständische Bauindustrie, also all die, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind. Aber das Sagen haben die Vertreter der Exportwirtschaft, der großen Weltkonzerne, die ihre Gewinne fortwährend dadurch steigern, daß hier die Löhne und Sozialleistungen abgesenkt werden, während ihre Preise im Ausland eher steigen. Nur ihnen nutzt die neoliberale Propaganda von den angeblich zu hohen Löhnen, Steuern und Sozialabgaben. Immer wenn die Politik nachgibt, sorgt sie dafür, daß die Kosten der Exporteure sinken, während für die Inlandsproduzenten die Nachfrage wegbricht.

Die Jobs in der Exportwirtschaft sind immerhin sicher.

Aber der Rest der Volkswirtschaft, also drei Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung, stagniert. Weil die Leute immer weniger kaufen können und auch der Staat immer weniger Geld für Investitionen hat, geht es seit Jahren abwärts. Das fängt an bei den sinkenden Umsätzen in der Gastronomie und dem Einzelhandel und hört auf beim Verfall der Infrastruktur. Straßen, Schienen, Schulen.

Und Sie glauben, das wäre politische Absicht?

Das wird offen erklärt. Der Chef von Bertelsmann, Reinhard Mohn, meinte einmal, es sei ein Segen, „daß uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.“ Die regierenden Politiker nehmen diese Spekulation auf die Krise hin, statt dagegenzuhalten. Nehmen Sie nur die für nächstes Jahr beschlossene Erhöhung der Mehrwertsteuer. Absurder geht’s nicht! Das wird vermutlich den zarten Aufschwung wieder ersticken. Den Nutzen hat die Exportwirtschaft. Exportwaren sind schließlich mehrwertsteuerfrei.

Und wo soll die Finanzindustrie, also die Banken und Versicherungen, in der Politik am Werk sein?

Da ist die Realität schlimmer als alle Verschwörungstheorien. Leute wie Sozialminister Franz Müntefering oder der Obersachverständige Bert Rürup untergraben das Vertrauen in die staatliche Rentenversicherung und lenken so die Beitragsmilliarden in die Kassen der privaten Rentenversicherer. Wenn sie nur zehn Prozent der Beiträge für die gesetzliche Rente auf die Privatvorsorge umlenken können, hat die Versicherungswirtschaft ein Plus von ungefähr 15 Milliarden Euro. Die private Vorsorge bringt der Finanzindustrie einen endlosen Strom von Prämien, Provisionseinnahmen und …

Es geht wohl eher um das Problem, wie immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentner finanzieren sollen. Da sind individuelle Sparkonten sinnvoll.

Das ist das übliche Mißverständnis, das die Versicherungen und ihre politischen Helfer ausnutzen. Dem Einzelnen erscheint sein Konto oder seine private Rentenversicherung sinnvoll. Aber für die Volkswirtschaft als Ganzes bringt diese so genannte Kapitaldeckung nichts. Denn am Ende kann immer nur so viel an Rente ausgezahlt werden, wie die jeweils Erwerbstätigen erarbeiten. Die arbeitende Generation muß erwirtschaften, was die Älteren und übrigens auch die Kinder und Jugendlichen brauchen; das ist auch mit der Umstellung auf Privatvorsorge nicht zu ändern.

Viele trauen der Privatwirtschaft eher als einem staatlichen System.

Dieses Mißtrauen wird absichtlich erzeugt, zum Beispiel mit der Schnapsidee, heute schon über die Erhöhung des Renteneintrittsalters für 2029 zu debattieren. Als ob irgendjemand wüßte, wie die Wirtschaft in 20 Jahren laufen wird. Heute liegt das Renteneintrittsalter im Schnitt nur bei 60 Jahren, also weit unter der Norm von 65. Was soll da die Erhöhung auf 67? So soll offenbar jungen Leuten Angst vor Altersarmut gemacht werden. Denn sie müssen Rentenabschläge von 3,6 Prozent pro Jahr hinnehmen, wenn sie mit 65 statt 67 in Rente gehen wollen. Als Rettungsanker bleibt dann nur noch, eine private Versicherung abzuschließen.

Sie sagen doch selbst, das nimmt sich nichts.

Nein, nein. Die gesetzliche Rentenversicherung braucht maximal vier Prozent der Beiträge für die Verwaltung. Bei der Riesterrente sind es schon zehn Prozent, die für Provisionen, Werbung und Vertrieb draufgehen, bei manchen privaten Systemen zum Beispiel in Großbritannien 20 Prozent und mehr. In Chile, in den USA, in Großbritannien sind Privatvorsorgesysteme zusammengebrochen, weil sie sich auf den Kapitalmärkten verspekuliert haben. Für mich läßt all das nur den Schluß zu: Entweder Müntefering und die ganze Truppe verstehen die Zusammenhänge nicht, oder sie stecken mit den Versicherern unter einer Decke. Entweder sind sie dumm oder korrupt. Im Fall der Professoren Rürup, Raffelhüschen, Miegel und Sinn, die immer als Kronzeugen auftreten, ist die Interessenverflechtung leicht nachzuweisen.

Ach ja?

Herr Raffelhüschen ist Aufsichtsrat bei der Ergo-Versicherung, Prof. Sinn bei der Unicredit. Miegel läßt sich sein Institut auch von der Deutschen Bank finanzieren. Alle machen sie mit gut bezahlten Vorträgen Werbung für den Finanzdienstleister MLP, was im Fall Rürup besonders skandalös ist. Schließlich ist er der Vorsitzende des eigentlich unabhängigen Sachverständigenrats. Man sieht, daß dieselben Herren in der Rentenkommission der Regierung einen „Nachhaltigkeitsfaktor“ vorschlagen, der die Renten senkt und das Vertrauen ins System untergräbt. Denn anschließend werben sie in Diensten der begünstigten Firmen für die „Riesterrente“ oder die „Rüruprente“.

Irgendwie müssen die Rentenbeiträge stabil bleiben.

Aha, die Gehirnwäsche funktioniert auch bei Ihnen! Sie können doch nicht von einem stabilen Beitragssatz reden, wenn die Leute genötigt werden, zu den üblichen 19,5 Prozent noch vier Prozent für die Riesterrente zu zahlen. Den gestrichenen Arbeitgeberanteil hinzugerechnet sind das acht Prozent, so daß man faktisch auf 27,5 Prozent Beitrag kommt. daß die SPD bei diesem Unfug mitmacht, tut mir in der Seele weh.

Herr Müller, fürchten Sie, die SPD könnte Sie aus der Partei ausschließen?

Nein. Wenn es jemand will, dann soll er es ruhig betreiben. Aber es gibt zu viele in der Partei, die meine Kernforderung für richtig halten.

Und die lautet?

Daß die Bundesregierung endlich eine richtige Konjunkturförderung betreibt. Da liegt das größte Versagen von Rot-Grün und auch der großen Koalition.

Sie meinen die klassische Methode des Ökonomen Keynes: Mehr Schulden machen und mit staatlichen Investitionen Wachstum erzeugen. Das gilt wegen der hohen Schuldenlast als überholt. Darum setzen die meisten Ökonomen nicht auf das Ankurbeln der Nachfrage, sondern auf die Verbesserung des Angebots, also die Bedingungen für die Unternehmen.

Stimmt, in Deutschland machen wir das seit 25 Jahren so. Unternehmensteuern senken, Sozialabgaben senken, Löhne senken und Staatsausgaben senken. Und was ist dabei herausgekommen? Höhere Arbeitslosigkeit und mehr Schulden.

Was wird aus der Maastricht-Grenze für den Euro, wonach die Neuverschuldung nicht mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen darf?

Die können wir ja ohnehin nicht halten, solange wir im Konjunkturloch stecken. In anderen Ländern ist das gar nicht umstritten. Schweden hat seine Krise in den 90er Jahren vor allem mit hohem Einsatz staatlicher Mittel und einer Schuldenquote von über elf Prozent überwunden. Genauso hielten es die Briten, dort ging es bis acht Prozent, und auch die Clinton-Regierung hat hohe Schulden hingenommen, um dann Schulden abzubauen. Diese einfachen Zusammenhänge verstehen unsere Meinungsführer offenbar nicht. Für diese Unfähigkeit zahlen wir alle: Stellen Sie sich vor, wir hätten den letzten Boom im Jahr 1992 nicht mit einer dummen Hochzins- und Sparpolitik abgebrochen und seitdem statt der jämmerlichen 1,2 Prozent Wachstum im Jahresdurchschnitt 2,5 Prozent erreicht. Dann hätten wir heute ein um fast ein Drittel höheres Bruttoinlandsprodukt, das wären fast 700 Milliarden Euro mehr pro Jahr; der Schuldenabbau wäre gar kein Problem. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß eine Debatte über diesen Verlust bei uns vermieden wird?

Mal angenommen, Sie hätten Recht, wie erklären Sie sich dann, daß die deutsche Wirtschafts- und Politikelite seit Jahrzehnten eine falsche Politik verfolgt?

Offenbar gibt es eine Art Niedergang der Erkenntnisfähigkeit, anders kann ich es nicht erklären. Das hat auch damit zu tun, daß alle, die auf die pragmatische Optimierung aller wirtschaftspolitischen Instrumente setzen, systematisch ausgegrenzt werden. Das konnte man zuletzt beobachten, als in Berlin das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung regelrecht umgedreht wurde. Früher war das eher keynesianisch ausgerichtet, jetzt schwimmt es im Mainstream mit.

Sinkende Arbeitslosenzahlen sind doch das Beste, was eine Kanzlerin Merkel erreichen kann. Warum macht sie nicht, was Sie fordern?

Es gibt eben andere Interesseneinflüsse und leider auch viel Unwissen. Ich weiß, das klingt wie die Rede eines Alten, der sagt, früher war alles besser. Aber als ich in Bonn beim Wirtschaftsminister Schiller als Redenschreiber anfing, da war nicht nur mein Minister ein gebildeter Makroökonom, sondern auch sein Parlamentarischer Staatssekretär und ebenso Schillers Nachfolger Helmut Schmidt oder der Arbeitsminister Herbert Ehrenberg. Und heute, da hatten wir zuletzt Leute wie Schröder und Clement, deren ökonomischer Verstand auf ihr Verständnis von „Reformen“ und die Verteilung von Subventionen beschränkt scheint. Bei Merkel und Müntefering ist es nicht anders. Auch ihre Berater glauben alle an dieselben Dogmen und können ihre Meinung gar nicht mehr ändern, weil sie dann Fehler zugeben müssten.

Die Globalisierung hat die Macht von Politikern zu den Managern der Großunternehmen verschoben. Diese können immer drohen: Wenn ihr nicht tut, was wir wollen, dann gehen wir eben ins Ausland.

Da müßte die Politik eben den Mut haben, gegenzuhalten. Sie müßte unsere Standortvorteile durch Förderung der Produktivität stärken und diese auch öffentlich preisen. Es wäre ein Kampf, aber jeder Bundeskanzler, auch Angela Merkel, könnte ihn gewinnen, gerade weil der bisherige Weg nachweislich erfolglos war.

Was bitte sollte die Kanzlerin tun, wenn namhafte Firmen die Verlagerung ihrer Betriebe ankündigen?

Drohungen wird es immer geben. Ob es tatsächlich in größerem Umfang dazu kommt, hängt auch von der wirtschaftlichen Belebung hierzulande ab. Mit einem echten Konjunkturprogramm und …

… das kostet. An welche Summen denken Sie?

Na, 30 bis 40 Milliarden Euro, für die Infrastruktur, für Energieeffizienz, für Universitäten und Schulen. Wenn sie das starten, kommt alles in Bewegung, dann haben doch alle mehr Aufträge, die Globalisierungsdrohung würde unwichtiger. Wir verlieren die Jobs vor allem deshalb, weil hier Depression verbreitet wird. Mit der Botschaft, wir machen Wachstum möglich, kann man sehr wohl Wahlen gewinnen, notfalls auch gegen die Konzernmächtigen.

Und das unterbleibt nur, weil die Regierenden unwissend und schlecht beraten sind?

Die ideologische Indoktrinierung der politischen Klasse ist über viele Jahre eingesickert, auch weil Organisationen wie die Bertelsmann-Stiftung oder die von den Metallarbeitgebern finanzierte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit viel Aufwand die öffentliche Meinung beeinflussen.

heuschrecken.jpg War das zu Ihrer Zeit im Kanzleramt so anders? Was war mit den zig Milliarden Mark Steuergeld, die unter den Regierungen Brandt und Schmidt an Siemens, AEG und die Stromkonzerne für Atomprojekte flossen, die sich als völlig irrsinnig erwiesen?

Es gab auch damals fragwürdige Interessengeflechte. Aber es gab nicht diese totale Unterwerfung der Politik. Brandt hatte den Mut, sich gegen eine millionenschwere Anzeigenkampagne anonymer Geldgeber zur Wehr zu setzen; er machte sie zum öffentlichen Thema und mobilisierte so das Volk gegen den Anspruch dieser Wirtschaftskreise, Politik am Volk vorbei zu bestimmen.

Sie sind jetzt 68 Jahre alt, warum tun Sie sich den Streß eines Ein-Mann-Feldzugs noch an?

Ich bin ja nicht allein, viele denken ähnlich. Flassbeck, Horn, Bofinger, der auch im Rat der fünf Weisen sitzt, oder viele Gewerkschafter, auch Norbert Blüm. Soll ich denn als Rentner die Welt bereisen und mich auf meiner Pension ausruhen?

Zweifeln Sie nicht manchmal, ob Sie vielleicht völlig auf dem Holzweg sind, sich verrannt haben?

Natürlich frage ich mich das manchmal, aber die sachlichen Zusammenhänge sind einfach zu offensichtlich, ebenso die Anzeichen von Korruption.

Sie werden in der SPD gesehen wie Norbert Blüm oder Heiner Geißler bei der CDU: Als einer von den Alten, die ihre alten Zeiten wiederhaben wollen.

Das ist ja das Problem: Wir Alten sind die Radikalen, weil wir es uns leisten können. Wenn ich in meinem Examensjahr 1963 hundert Bewerbungen hätte schreiben müssen und dann doch keinen Job gekriegt hätte, hätte ich vielleicht auch keinen Mut entwickelt, radikale kritische Fragen zu stellen. Ich kann die Ohnmacht und Mutlosigkeit der Jungen gut verstehen. Da ist es gut, wenn zum Ausgleich wenigstens ein paar Alte aufmüpfig werden.

Dez. 2006 | Heidelberg, Allgemein, Politik, Wirtschaft, Zeitgeschehen | 3 Kommentare