Mit viel Wirbel wurde gerade einmal mehr die Hauptschule und das deutsche Schulsystem ganz allgemein auf die Tagesordnung gesetzt. Es scheint, als ob mit der Schulpflicht nicht Chancengleichheit und Entwicklung aller Schüler verbunden wäre, sondern daß die Schule ganz in Widerspruch zu ihrem Anspruch und Auftrag gewaltbereite Versager produziert. Ivan Illich hätte dies, würde er noch leben, wohl mit trauriger Genugtuung zur Kenntnis genommen. Vor mehr als 30 Jahren hatte er mit seiner These, das hierarchische Schulsystem befinde sich nicht im Aufstieg, sondern daß dies im Gegenteil für die Mehrheit Ausgrenzung und persönliche Niederlage bedeute, von enthusiastischen Pädagogen viel Empörung geerntet, weil Bildung der einzige Weg aus der Armut bedeutete.
Der Theologe und Zivilisationskritiker Illich meinte in den sechziger und frühen siebziger Jahren, als er seine Forderung nach Entschulung der Gesellschaft formulierte, allerdings weniger den Nachwuchs in den entwickelten Metropolen als vielmehr die Menschen an deren Rändern. Unter den puertoricanischen Migranten in New York und später in Puerto Rico beobachtete der Priester und Erzieher nämlich, dass Schule ein Ritual ist, das zwar den Glauben an Bildung stärkt, das damit verbundene soziale Versprechen aber nicht einzulösen vermag.
Mit seiner Skepsis gegenüber der „Beschulung“ wuchs auch Illichs Distanz zu anderen Institutionen, etwa der Medizin und dem Gesundheitssystem. Lange, bevor sich professionelle Ethikräte mit dem „slippery slope“, der abschüssigen Bahn des wissenschaftlichen Fortschritts befaßten oder Soziologen den Terminus „Risikogesellschaft“ erfanden, behauptete Illich, daß die moderne Medizin unumkehrbar eine Grenze überschritten habe. Medizinische Experten, so seine These in der berühmt gewordenen Nemesis der Medizin, entmündigten ihre Patienten und schafften eine chronisch kranke Gemeinschaft, die glaubt, sich nur per Technik, Screening oder Risikofeststellung am Leben erhalten zu können.
In der ausufernden medizinkritischen Literatur spielt Ivan Illich, der 2002 gestorben ist und im Dezember 80 Jahre alt geworden wäre, heute keine herausragende Rolle mehr, obgleich er ihr nachhaltig den Weg bereitet hat. Das hat Gründe. Einerseits war Illich ein radikaler Denker in dem Sinne, als er nicht nur an die verwaltete Form der Wissenschaftskritik wenig mehr als keine Zugeständnisse machte; zum anderen war er trotz aller Rebellion gegen seine Kirche ein überzeugter Katholik, der das Evangelium ernst nahm.
Freie Wahl des Nächsten – und ihre Korrumpierung durch die Kirche
Wie ernst es ihm war, zeigt sich nun postum in einem Band, den Illichs kanadischer Freund, der Rundfunkjournalist David Cayley, herausgegeben hat. In den Flüssen nördlich der Zukunft – ein Titel, der einem Gedicht Paul Celans entlehnt ist – faßt die letzten Gespräche zusammen, die Cayley mit Illich geführt hat, und liefert eine beeindruckende Synthese von dessen Denken und Werk.
Bezugspunkt, das wird darin sehr deutlich, war für Illichs Theorien über die Gesellschaft immer das Neue Testament und darin besonders das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der einen verletzten Fremden aus dem Straßengraben rettet und ihn so als seinen Nächsten auserwählt. In dieser freien Wahl des Nächsten, der nicht der eigenen Gruppe angehört – in unserer Zeit könnte es der Palästinenser, der einem Juden hilft sein -, erkennt Illich die radikale Neuartigkeit des Neuen Testaments: „Mein Nächster ist der, den ich wähle, nicht der, den ich wählen muß.“ Nächstenliebe ist keine Verhaltensregel, nicht etwas, was ich tun soll, sondern was ich freiwillig tue. Wende ich mich von meinem Nächsten ab und gewähre ihm kein Gastrecht, verletze ich nicht eine Regel, sondern ganz persönlich diesen Nächsten – und damit Gott.
Illich zeigt nun, wie diese Frohe Botschaft im Laufe der Geschichte – er setzt den Umschlagpunkt im Hochmittelalter an – korrumpiert und in ihr Gegenteil verkehrt wird. Die katholische Kirche ersetzt die persönliche Gastfreundschaft durch Fürsorgeinstitutionen, die bis in die moderne Dienstleistungsgesellschaft hinein wirken. An die Stelle des Guten tritt die Idee von Werten und mit ihr die Kriminalisierung der Sünde, die sich nun vor dem inneren Gerichtshof, dem Gewissen, rechtfertigen muß. Die Kirche setzt ihre Macht ein, um Menschen zu disziplinieren, sie an regelhaftes Verhalten zu gewöhnen und an Wertmaßstäben zu messen. Diese Etablierung meßbarer Werte und Normen verdrängt das Gute in der Welt, die moderne Dienstleistungsgesellschaft die christliche Zuwendung, kurz: der moderne Westen ist eine Perversion des Glaubens.
Einen der letzten Gebildeten wieder entdecken
In Illichs grandiosem Durchgang durch 2000 Jahre abendländischer Geschichte gibt es Passagen, die terminologisch aufschrecken, etwa wenn er den „Antichristen“ als Inbegriff des „Bösen“ in Anschlag bringt. Doch zumindest der Hauptteil des Buches, der aus einer Reihe langer Gespräche hervorgegangen ist, liest sich faszinierend.
Hier spricht einer der letzten noch umfassend Gebildeten, der aus der Zusammenschau des antiken und christlichen Denkens entwickelt, was für uns heute selbstverständlich ist, von der Warte unserer Vorfahren aus aber fremd anmuten muß: unser entkörperter Blick, der im Streit um das Bilderverbot wurzelt; das naturwissenschaftliche Denken, das Natur als leblose entwirft; unsere Auffassungen von Schmerz und Schmerztötung, die die alten Körpervorstellungen überschatten; und eben unsere Verbeugung vor einer Prozedur, die sich Schule nennt und suggeriert, Gleichheit herzustellen.
Man wird Illich nicht in jede Fuge seines Denkens folgen, nicht jede These verteidigen wollen (streiten läßt sich zum Beispiel darüber, ob das Ehesakrament ein Akt der rituellen Gleichstellung der Frau war), und man wird sich an manchen Stellen veranlaßt fühlen, über (männliche) Projektionen zu lächeln. Doch das Buch ist eine großartige Vorlage, einen großen Denker wieder zu entdecken – und mit ihm etwas, was im heutigen akademischen Zirkus weitgehend verloren gegangen ist: das entspannte, wache, freundschaftliche intellektuelle Gespräch, für das Ivan Illich berühmt war und das David Cayley, von dem auch die sorgfältige und erhellende Einführung in Illichs Leben und Werk stammt, für eine breitere Leserschaft aufbereitet hat.
Das Kapitel über die Freundschaft ist auch ein nachgereichtes Geschenk an Illichs Freundeskreis. Bei allen anderen mag sich nach der Lektüre ein nagendes Gefühl des Bedauerns einstellen, nicht zu diesem Kreis gehört zu haben. got
Ivan Illich „In den Flüssen nördlich der Zukunft“ (Paul Celan)
Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley Übersetzt von Sebastian Trapp
277 Seiten, Paperback 2006 im C.H. Beck Verlag | ISBN: 340654214x