Tom Holert und Mark Terkessidis ergründen die Parallelen der beiden „Wanderbewegungen“ Arbeitsmigration und Tourismus.
Es braucht dieser Tage nicht viel, um das Gerede von der heutzutage grundsätzlichen Mobilität mit ihren positiven wie gleichzeitig negativen Folgen zeitungsgerecht zu illustrieren. Nur ein halbwegs talentierter Fotograf muß gebucht und an den Strand einer Kanareninsel geschickt werden und bald schon liefert er die symbolträchtigen wie frappierenden Bilder von in leckgeschlagenen Kähnen anlandenden Afrikanern, während sich wenige Meter weiter erholungsbedürftige Westeuropäer die bleiche Haut mit Sonnencreme bestreichen.
Eine Begegnung der ganz eigenen Art ist zu beobachten; eine Konfrontation zweier Wanderbewegungen aus entgegengesetzten Richtungen, hart an der Grenze zur Karikatur. Was nun ähnlich aussieht, ist nicht gleich oder gar austauschbar. Es bleiben die Folgen der fundamentalen Unterschiede ihres jeweiligen Tun durch die sozialen Ökonomie der Aufbruchsorte, mögen Tourist wie Flüchtling auch kurzzeitig nebeneinander im Sand liegen: Der eine riskiert Kopf und Kragen, um dem zu entfliehen, was man gemeinhin Herkunft oder Heimat nennt. Dem anderen dürstet es nach Entspannung oder Ausgleich, um nach einer genau geplanten Zeit zurück in die für sicher gehaltene Heimstatt zu kehren.
Doch trotz dieser feststehenden Unterschiede, gibt es eine Reihe von verblüffenden Berührungspunkten und Übereinstimmungen, die – wenn man sie in ihrer Bedeutung nicht sogleich überstrapaziert und übercodiert – in Richtung einer gemeinsamen Herkunft wie wachsenden Verwandtschaft von Tourist und Migrant verweisen.
Genau an diesem Punkt hakt das Autorengespann Tom Holert und Mark Terkessidis ein und unterzieht in Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen die scheinbar vordergründigen Parallelitäten von Flüchtlings- wie Tourismusbewegungen einer umsichtigen praktischen wie theoretischen Untersuchung. Die Autoren schauen sich an so unterschiedlichen Orten um wie den Hotelburgen Spaniens oder in Flüchtlingsdörfern in Kroatien, die einst von schwedischen Fertighausarchitekten für Touristen erbaut worden sind. Sie hören sich unter teilweise über Jahre in Marokko festsitzenden afrikanischen Arbeitsmigranten um und schauen, wie diese in der Fremde auf Zeit heimisch werden (müssen). Sie sprechen mit in Europa arbeitenden Marokkanern, die sich umgekehrt während ihres Urlaubs in der ersehnten Heimat als seltsam fremd erfahren. Zugleich liefern sie wichtige Einblicke in die Geschichte der Flüchtlingsbewegungen wie des Tourismus; beschäftigen sich ebenso intensiv etwa mit dem NS-Seebad Prora wie mit der Geschichte der Cote d’Azur und verknüpfen so immer wieder Ortstermin und historischsoziologische Analyse.
Erkennbar wird für das Autorengespann bald das Motiv der erstarrten Bewegung; eines Zustandes, bei dem die Menschen ebenso anwesend wie abwesend sind. Was für das Entstehen auch architektonisch provisorischer Orte sorgt, in denen die Menschen nur noch über ein instrumentelles Verhältnis zu ihrer sozialen Umgebung verfügen, während ihre Lebenszeit verrinnt. Eine Dynamik, die sich unter dem Druck der Globalisierung fortwährend steigert; weshalb es mittlerweile so nett anekdotisch wirkt, erinnert man daran, dass als damals in den fünfziger Jahren die ersten Bundesdeutschen an die Adria juckelten, ihnen nicht wenige der dortigen Bewohner auf der Suche nach Arbeit entgegen kamen.
Schlüssig und bedenkenswert sind ebenso die Ausflüge der Autoren in scheinbar vom Wege wegführende Gefilde wie die normale westeuropäische Großstadt. Denn diese Städte sind, so weisen sie kurz und bündig nach, längst ein touristisch strukturiertes Gebilde, in dem sich vieles von der an fremden Orten entdeckten Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit wiederfindet. Angefangen beim neu aufgeschütteten Strand entlang städtischer Flüsse, wo der kaufmännische Angestellte nach Feierabend als Einheimischer die Szenerie beobachtet, so wie er selbst als Tourist betrachtet werden kann.
Eine Entwicklung mit Folgen für den Stadtbewohner: So wie sich der Zugereiste dank der touristischen Gleichförmigkeit urbaner Räume schnellstmöglich zu Hause fühlen soll, soll sich der Städter nicht der Illusion hingeben, er sei an seinem Wohnort angestammt und könne dort einfach so das Leben genießen. Gerade er ist aufgefordert, die Stadt täglich neu zu erobern und sie etwa mittels der „Nacht der Museen“, der Theater, der Kirchen, der Friedhöfe und was es sonst an eigentlich normalen städtischen Gebrauchsinstitutionen gibt, zu erhöhen und zugleich in ein flüchtiges Event umzuformatieren.
So findet sich auch hier – fern der plakativen Küsten Senegals oder der Felsstrände Albaniens – die schrittweise Aufhebung der Kategorien „Ortsansässiger“, „Heimischer“ und „Fremder“ oder „Tourist“. Womit die Botschaft hieße: Alle sind wir irgendwie Reisende. Die man bekanntlich nicht aufhalten sollte, weshalb sich aus ihrem diffusen, nicht mehr verortbaren Status eine fortwährende Einschränkung einstiger Rechte durch Bewohnerschaft ergibt. Wer permanent von woanders kommt – real oder so definiert – , verliert jeden Anspruch, sein flüchtiges Lebensumfeld mitzugestalten. Die Autoren fordern deshalb zum Schluss: Statt weiterhin die Freiheit der Bewegung zu preisen, gelte das Recht des Einzelnen auf einen Ort. got
Tom Holert und Mark Terkessidis: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 285 Seiten, 8,95 Euro.