Piranhas neben dem Schreibtisch
Die Redaktion ist mitten im Berliner Industriegebiet Marienfelde zu finden, im klobigen Gebäude der Werner Media Group. Im Großraumbüro der Redaktion der neuen Jüdischen Zeitung herrscht Arbeitsatmosphäre. Man hört leises russisches Gemurmel. Sofort fallen drei große Aquarien auf, darin sich nicht etwa Schleierschwänze tummeln, sondern Piranhas. „Nein, die Fische lassen nicht auf eine aggressive Firmenpolitik schließen, sondern sind einfach nur eine Vorliebe des Herausgebers Nicholas Werner“, beruhigt der deutschsprachige Redakteur Lutz Lorenz.

Die Werner Mediengruppe ist seit Jahren auf russischsprachige Zeitungen in Deutschland spezialisiert und gibt etwa die Wochenzeitung Evropa-Express (Auflage 120 000) oder die monatliche Evreyskaya Gazeta (Auflage 50 000) heraus. Soeben ist erstmals das deutschsprachige Pendant zur Gazeta, die Jüdische Zeitung herausgekommen, ein 40-seitiges Monatsblatt mit einer Startauflage von immerhin 39 000 Exemplaren.

Daß man mit dieser Auflage auf Anhieb gleich mehr als doppelt so stark auftritt als die Jüdische Allgemeine, die vom Zentralrat der Juden in Deutschland herausgegeben wird, sieht Redakteur Lorenz nicht als demonstratives Konkurrenzgebaren. „Wenn man sich die Presselandschaft vor 1933 anschaut, dann gab es damals auch eine Vielzahl jüdischer Publikationen und Magazine. Das jüdische Leben ist dank der großen Zuwanderung russisch-sprachiger Juden in den letzten 15 Jahren so reichhaltig und bunt geworden, daß die Zeit reif ist für eine zweite jüdische Zeitung, wirtschaftlich und auch redaktionell unabhängig vom Zentralrat“, erklärt Lorenz. Die Kinder und Enkel dieser Einwanderer würden mittlerweile ja mehrheitlich deutsch sprechen und lesen und stellten somit ein ganz neues jüdisches Leserpotential dar.

Keine Übersetzung der Gazeta

Die Jüdische Zeitung ist nicht einfach eine Übersetzung der Gazeta, sondern sieht sich als eigenständiges Medium mit einer deutschen Sicht auf jüdische Themen. Weder die Redakteure noch die freien Autoren müßten daher zwingend jüdisch sein, dafür aber ihr journalistisches Handwerk beherrschen.

So will die vierköpfige Redaktion das ganze Spektrum jüdischen Lebens in Deutschland erfassen, von orthodoxen bis zu liberalen Gemeinden, von Chabad-Gemeindezentren über jüdische Firmen, Sportvereine bis hin zu „flippig jungen Juden“, wie es im Editorial der ersten Ausgabe heißt.

Zudem möchte sich die Jüdische Zeitung auch an nichtjüdische Leser wenden, die ein ganz allgemeines Interesse an jüdischer Religion, Geschichte, Kunst und Kultur haben. Lutz Lorenz will dabei kein braves Blättchen mit philososemitischer Schere im Kopf produzieren. Die Berichte aus Israel wie aus den jüdischen Gemeinden in Deutschland werden gut recherchiert sein, verspricht er.

So fällt bereits in der ersten Ausgabe das Interview mit dem Leiter des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums Julius Schoeps auf, der das Finanz- und Personalmißmanagement in der Berliner Gemeinde scharf anprangert. „Wir wollen die jüdischen Gemeinden nicht hätscheln und tätscheln, sondern kritisch über sie berichten. Natürlich gibt es für jüdische Einrichtungen in Deutschland immer eine Art Bonus, egal ob man das Vertrauen, Schuld oder Verantwortung nennt. Wir werden aber die ersten sein, die den Finger in die Wunde legen, wenn in den jüdischen Gemeinden etwas Unrechtes geschieht“, verspricht Lorenz. Er kennt die Verhältnisse dort von innen. Früher war der studierte Journalist in der jüdischen Gemeinde Berlin unter anderem für die Organisation der „Jüdischen Kulturtage“ zuständig.
Judentum in Deutschland beginnt sich demographisch zu erholen und an Facettenreichtum zu gewinnen. Diesen Prozeß der Pluralisierung will das Blatt aufmerksam begleiten, unabhängig und kritisch als Monatszeitung.
Jetzt lockt die Jüdische Zeitung interessierte Leser erst einmal mit einem sechsmonatigen Freiabo. Die Einzelausgabe am Kiosk kostet 2,20 Euro, das Jahresabo 22 Euro innerhalb Deutschlands. Wann die Jüdische Zeitung die Gewinnzone erreichen soll, will Redakteur Lorenz nicht verraten. Er freut sich auf die Chance, eine eigenständige jüdische Monatszeitung in Deutschland mit etablieren zu dürfen. Der Zeitungsmarkt in Deutschland ist bekanntlich ein Haifischbecken – auch daran erinnern ihn die Piranhas unweit seines Schreibtischs. am

Nov. 2006 | Allgemein | Kommentieren