Zwei Beispiele, die miteinander zu tun haben:

Erstens: Ein Schuldirektor in Kreuzberg, in dessen Schule nur noch fünf deutsche Muttersprachler sind und der nun deutschen Eltern dringend abrät, ihre Kinder überhaupt dort anzumelden.
Zweitens: Der Demograph, der voraussagt, daß in den Ballungsräumen bald über die Hälfte der jungen Erwachsenen keine Deutschen mehr sein werden.

Primärtugenden mit Fernsehsendung

Alexander Kluge könnte die drei Wochenend-Beispiele in einem Film schneiden und dann bei Sat.1 zu später Stunde senden. Aufgemacht werden müßte das wie der „7.Sinn“, die WDR-Sendung für Verkehrsteilnehmer. Gott, hat man uns das eingebleut: Reaktionszeit, Bremsweg, Anhalteweg! Fahren Sie vorausschauend! Seien Sie umsichtig! Bleibt nüchtern! Eine Sekunde nicht aufgepaßt, kann zum Crash führen.
Seit unseren Kinderjahren, ehe unsereiner überhaupt an Führerschein und Straßenverkehr dachte, ging es um den „7. Sinn“ und die dazugehörige Stimme des Sprechers Egon Hoegen: „Ganz wichtig: Halten Sie Tempobeschränkungen ein, denn der Anhalteweg, der neben dem Bremsweg auch die Reaktionszeit des Fahrers berücksichtigt, erhöht sich überproportional zur Geschwindigkeit.“ Wer in hundert Jahren die Sozialisation der Republik auf den Begriff bringt, wird auf diese Regeln stoßen. Es sind unsere Primärtugenden, die einzigen jedenfalls, denen seit 1966 eine eigene Fernsehsendung gewidmet ist.

Bremsweg und Reaktionszeit

Es ist ja eigentlich nicht viel, was da verlangt wurde. Aber heute, irgendwo zwischen den Kilometersteinen 2005 und 2010, haben wir das Gefühl, daß, was jeder dreijährige Tretrollerfahrer in diesem Land eingeschärft bekommt, für die Lenker des Ganzen nicht galt. Wie denkwürdig wirken angesichts der demographischen Verkehrsverhältnisse in unserem Land jetzt manche Aussagen der WDR-Reihe: „Vorsicht! Kinder sind die schwächsten Verkehrsteilnehmer“; oder: „Besonders in Wohngebieten gilt: Kinder sieht man schlecht“. Noch ein paar Kilometer weiter, und man wird sie gar nicht mehr sehen, weil es immer weniger Kinder geben wird.

1aaababys.jpg„Der wichtigste und schwerwiegendste Irrtum über die Natur der demographischen Veränderungen ist der Glaube“, schreibt der Bevölkerungsforscher Herwig Birg, „daß uns ein rascher Wiederanstieg der Geburtenrate auf 1,6 oder 1,8 oder zwei Kinder pro Frau vor dem Schlimmsten bewahren könnte. Aber es ist dreißig Jahre nach Zwölf, heute kann selbst ein Anstieg der Geburtenrate auf die ideale Zahl von zwei Kindern je Frau die Alterung für Jahrzehnte nicht abwenden.
Daß es ein demographisches Momentum mit irreversiblen Folgen gibt, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der Demographie. Wenn ein demographischer Prozeß ein Vierteljahrhundert in die falsche Richtung läuft, dauert es ein Dreivierteljahrhundert, um ihn zu stoppen.
Wir befinden uns noch nicht einmal in der Phase des Bremswegs, noch läuft überhaupt erst der Countdown der Reaktionszeit. Haben wir schon reagiert? Werden wir reagieren? Wann werden wir reagieren? Politiker, die wissen, daß sie nicht mehr im Amt sein werden, wenn die demographischen Folgen zu unübersehbaren sozialen und urbanen Veränderungen geführt haben werden, planen eine Zukunft auf den Grundrissen eines Deutschland, das in den siebziger Jahren vielleicht einmal war, aber längst nicht mehr ist.
Es sei nicht nur den Abstand zwischen Reaktionszeit und Bremsweg beschrieben, sondern auch von Fehlprognosen angesichts verheerender Datenfehler geredet, die in einzelnen Kommunen beispielsweise zu einem statistischen Verschwinden der Neunzigjährigen geführt haben.
Schon hört man, wie einzelne Politiker, die heute am Umbau der Welt arbeiten, sich mokieren über Zeithorizonte wie den folgenden: „Der demographisch bedingte Problemdruck wird sich in den nächsten zehn Wahlperioden mit der irreversiblen demographischen Alterung kontinuierlich verstärken und Deutschland in eine permanente gesellschaftspolitische Großbaustelle verwandeln.“

Wenig Erwachsene, schlecht ausgebildet

Die heute Vierzigjährigen, die große Gruppe der letzten Babyboomer, sind von Eltern in diese Welt gesetzt worden, die zumeist zwischen 1930 und 1933 geboren wurden. Die Eltern, die heute Kinder in diese Welt setzen müßten, sind niemals geboren worden. 334 der 339 Kinder, die in die Eberhard-Klein-Oberschule in Berlin gehen, sind keine Deutschen. Von den jungen Erwachsenen, zu denen diese Kinder in fünf bis acht Jahren zählen, werden eine gewaltige Zahl weder richtig Deutsch sprechen können noch eine angemessene Ausbildung haben.
Im schlimmsten Fall werden diese ohnehin schon wenigen, schlecht ausgebildeten Erwachsenen dann zusätzlich dem staatlichen Sozialbudget zur Last fallen. Auch hier sind wir noch in der Phase der Reaktionszeit. Wenn wir sehenden Auges eine jungen Erwachsenenpopulation heranreifen sehen, die noch nicht einmal über die elementarsten Bildungsgrundlagen verfügt, aber uns gleich erhalten und ernähren soll, müßten wir sofort eine Art „New Deal“ der Bildungspolitik beginnen.

Reden wir über Kinder

Der deutsche Selbsthaß hat in den letzten Jahrzehnten eine Diskussion über dieses Problem verhindert, weil, wer es aufgriff, sofort beschuldigt wurde, klassische Bevölkerungspolitik zu betreiben. Wir müssen nun erkennen, daß der Autonomen-Satz „Nie wieder Deutschland!“ auf unheimliche Weise vollstreckt werden könnte. In der Tat, von Kindern profitieren in unserer Gesellschaft doch nur noch die, die sie nicht haben. Womit ein, das Prinzip unseres politischen Diskurses benannt wäre.

Was ein Mensch wirklich ist – so pathetisch dieses Satz klingen mag – , was also ein geborener Mensch wirklich wert ist, das werden wir alle jetzt erst erfahren. Es müßte uns gelingen, über etwas ganz Einfaches und Naheliegendes zu reden, etwas was nicht jeder hat, aber jeder einmal war. Reden wir über Kinder. got

Nov. 2006 | Allgemein | Kommentieren