Wem anders als uns Journalisten nämlich würde es zustehen, das Geschehen auf der Welt abzubilden, zu beschreiben und zu bewerten. Niemandem natürlich. Wir sind die Kompetenz. Nur wir. So jedenfalls sehen es Journalistenverbände oder die selbsternannten Premium-Reporter vom Netzwerk Recherche. Vereint ziehen diese ständischen Vertreter des schreibenden und sendenden Gewerbes gegen eine wachsende Konkurrenz zu Felde: den schreibenden Leser.

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Bislang wurde der Bürger ja auch in die lieblos aufgemachte, graue Leserbriefspalte gesperrt, wo sich betuliche, absurde und manchmal sogar brillante Beiträge fanden. Es war irgendwas zwischen Streichelzoo, Panoptikum und Alltags-Comedy. Und manchmal schlummerte darin auch ein versteckter Angriff auf die redaktionsinterne political correctness. Denn der unwirsche Leser schrieb bisweilen Dinge, die der Journalist (zwar) auch gern mal verfaßt hätte, sich aber (dennoch) nicht traute – schließlich gibt es noch die Interessen der Anzeigenabteilung – die widerum die Interessen des Verlegers vertreten.

Mit den neuen digitalen Medien nun gelingt dem Bürger erstmals der Ausbruch aus dem Leserbriefgetto. Mit der Kamera im Handy kann er Töne, Bilder und sogar Filmchen aufnehmen, die druck- und sendefähig sind. Ob 9/11 oder Tsunami, Flugzeugunglück oder Autounfall, keine Katastrophe mehr ohne Bürgerbilder. Die Vision des Soziologen Marshall McLuhan wird Realität: Jeder Empfänger ist ab sofort auch ein Sender. Das Monopol der Journalisten auf die Darstellung und Interpretation der Welt ist gebrochen.

Manche Medien experimentieren offensiv mit diesem neuen gewaltigen Heer an freien Mitarbeitern. Die „Rheinische Post“ betreibt das Projekt Opinio, bei dem die besten Leserbeiträge aus dem Internet in die Zeitung kommen. Die „BILD“-Zeitung veröffentlicht Fotos ihrer Leser, meist von Promis oder Katastrophen, also genau dem Stoff, aus dem das Blatt auch sonst besteht. Das ZDF lud seine Zuschauer zum Papst-Besuch sogar ein, die besten Filmchen von Benedikt in Bayern einzusenden. Andere fordern ihre Leser auf, Bilder von Promis zu verfremden. Und eine Berliner Boulevard-Zeitung überlegt, künftig die Beiträge von ehrenamtlichen Kiez-Reportern zu drucken. Kann sein, daß es da nur um Blumenkübel in der Fußgängerzone geht oder das Graffiti am Rathaus. Na und? Wenn es die Leute umtreibt, dann spricht nichts dagegen, es auch zu artikulieren.

Mit dem Trend zum Bürgerreporter ist beiden Seiten gedient. Die Bürger wollen in die Medien und die Medien wollen nicht nur mehr Stoff, sondern auch die Nähe zu ihm. Das ist gut so. Denn in den letzten Jahren erlebten Zeitungen und Sender genau das, was auch die Politik verspürte: Die wachsende Entfremdung zwischen Sendern und Empfängern.

Die Bürgerbeteiligung birgt darüber hinaus die Chance, ein Stück Demokratie zurückzugewinnen. Denn aus gutem Grunde ist der Beruf des Journalisten nicht geschützt. Der Job soll offen sein für alle Menschen, gleich welcher Herkunft, welcher Klasse, welcher Hautfarbe, welchen Alters, welchen intellektuellen Hintergrundes. Jeder kann Journalist werden, hier und heute, jeder kann sich so nennen, jeder darf sich in Wort und Bild ausdrücken, solange er die geltenden Regeln (das sehen wir – unter Umständen – nicht ganz so eng) und Gesetze (da m ü s s e n wir aufpassen und tun das auch) nicht verletzt. Es waren Sozialisten, die mit dem Einsatz so genannter Volksreporter das vermeintliche Meinungskartell der Medien durchbrechen und der Alltagsrealität zu mehr Öffentlichkeit verhelfen wollten.

Wer sich prinzipiell gegen den Einsatz dieser Bürgerjournalisten ausspricht, der ist nicht nur arrogant und demokratiefeindlich, er offenbart vor allem ein tief sitzendes Mißtrauen gegen seine Mitbürger. Ob deren Werke tatsächlich so viel schlechter sind als die tägliche Arbeit so genannter Profis, das bleibt erst einmal abzuwarten. Es kann gut sein, daß sich der Bürger nach einer kurzen Phase der Begeisterung wieder zurückzieht aus dem Journalismus und die Arbeit uns, den Profis, überläßt (die ja schließlich, wenn auch oft mehr schlecht als recht bezahlt werden). Kann aber auch sein, daß da eine ernstzunehmende Konkurrenz erwächst. Der Bürger gibt unserem Gewerbe jedenfalls eine Menge Anregungen und darüber hinaus die Chance, mal wieder über uns und unsere Leistungen nachzudenken. Und das kann nie schaden. got

Okt. 2006 | Allgemein, Feuilleton | Kommentieren